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Warum wurden mit Hartz IV die Leistungen für 1,5 Mio. Schulkinder gekürzt?

Montag, Januar 26th, 2009

Fördern durch Kürzen?
Anfang 2008 hat sich ein Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV gegründet. Es versucht durchzusetzen, dass die Kürzungen der Regelsätze für Kinder ab dem Schulalter sofort rückgängig gemacht werden. Wenn das Thema zur Sprache kommt, wird oft gefragt: Wann ist denn gekürzt worden? Vor vier Jahren? Ungläubiges Staunen. Die weitverbreitete Unkenntnis zeigt, dass die Medienkonzerne und die staatlichen Medien darüber nicht berichten, weil sie daran interessiert sind, diese Kürzung aufrecht zu erhalten. Dasselbe Interesse haben die christlichen Parteien und die SPD, die die Kürzung beschlossen hatten. Warum diese Kürzung beschlossen wurde und was zu tun wäre, soll Gegenstand des Vortrags sein.

“Unsichtbare” Kürzung des Eckregelsatzes und damit auch der Kinderregelsätze ab 2005

Die Regelsätze von Kindern sind Prozentsätze des sogenannten Eckregelsatzes, des Regelsatzes für Alleinstehende. Der Eckregelsatz und damit auch alle Kinderregelsätze sind mit Einführung von Hartz IV erhöht worden. Der Eckregelsatz von 297 Euro im Jahr 2004 auf 345 Euro ab 2005.
Die Regelsätze von Kindern unter 14 auf 207 € und zwar ausgehend von 149 € (für Kinder unter 7 in Paarhaushalten) bzw. 163 € (für Kinder unter 7 in Alleinerziehendenhaushalten) und 193 € für Kinder von 7 bis 13 Jahren vor Hartz IV. Hartz IV erscheint also als Verbesserung, nicht als Kürzung. Diese Oberflächlichkeit nutzen die Hartz IV-Parteien bis heute weidlich aus.
Die genannten Regelsätze waren aber nicht dieselben wie vor 2005. Sie enthielten jetzt auch die pauschalierten einmaligen Beihilfen.

Beginnen wir mit dem Eckregelsatz.
Der Eckregelsatz von 2005 war wundersamerweise genauso hoch wie das mit dem Rentenwert fortgeschriebene Leistungsniveau der Sozialhilfe von 1998 (Regelsatz plus einmalige Beihilfen) (info also 4/2004). Also wurde weder gekürzt noch erhöht? Auch das ist oberflächlich. Das Leistungsniveau wurde relativ gesenkt.
Es hätte 398 Euro statt 345 Euro betragen müssen, wenn der Eckregelsatzes nach denselben Kriterien bemessen worden wäre wie bei Einführung des sogenannten Statistik-Modells im Jahr 1990.
Ab 1990 wird der Eckregelsatz auf der Basis der Verbrauchsausgaben der unteren 20% der Verbrauchergruppen der Ein-Personen-Haushalte in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) festgesetzt. Dem Eckregelsatz von 1990 lagen die Verbrauchsausgaben dieser Bezugsgruppe aus der EVS 1983 zugrunde. Die Verbrauchsausgaben, die als regelsatzrelevant galten, d.h. in den Regelsatz eingehen sollten, wurden damals zu 100% anerkannt. Es gab zwei Ausnahmen. Der Verzehr außer Haus wurde nur zu einem Drittel anerkannt. Die Beträge für Strom entstammten einer Haushaltskundenbefragung der Vereinigung deutscher Elektrizitätswerke, die mit den Preissteigerungen fortgeschrieben wurde. (vgl. Rainer Roth, Hartz IV: Sechster Anlauf zur Senkung der Regelsätze für Kinder seit 1990, Frankfurt 2008, http://www .kinderarmut-durch-hartz4.de)
Die EVS von 1988 bzw. 1993 waren nicht für die Festsetzung des Eckregelsatzes in den 90er Jahren ausgewertet worden, weil der Regelsatz durch Bundestagsbeschlüsse “gedeckelt” wurde. Es hatte sich also ein Nachholbedarf aufgestaut.

Der Hartz IV-Eckregelsatz von 2005 wurde auf der Basis der EVS 1998 festgesetzt. Zwischen den Vertretern des Kapitals, die ihnen senken und anderen, die ihn erhöhen wollten, kam unter dem Druck der Proteste gegen Hartz IV ein Kompromiss zustande: der Eckregelsatz von 2005 wurde “unsichtbar” in erheblichem Umfang gekürzt.
Zu diesem Zweck wurde einige regelsatzrelevante Ausgaben nicht mehr wie vorher zu 100% anerkannt, sondern z.B. Telefon nur noch zu 60%, Ausgaben für Freizeit, Unterhaltung, Kultur nur noch zu 70%, Ausgaben für Blumen und Garten nur noch zu 75% usw. Besonders krass war die Behandlung der Stromkosten. Sie wurden nicht mehr zu 100% anerkannt und mit den erheblichen Preissteigerungen von 1998 bis 2005 in Höhe von rd. 25% fortgeschrieben, sondern nur noch zu 85% anerkannt und mit der Steigerung des Rentenwerts in Höhe von 7,23% fortgeschrieben.
Der Eckregelsatz hätte also 2005 statt 345 Euro 398 Euro betragen müssen, wenn das bei Einführung des Statistik-Modells angewandte Bemessungsverfahren beibehalten worden wäre.

Hartz IV trat mit einem um rd. 13,5% gekürzten Eckregelsatz ins Leben, der als Erhöhung erschien. (vgl. Roth/Thomé, Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z, Frankfurt März 2005, 175 f.)
Den meisten Kritikern von Hartz IV fiel das aber nicht weiter auf.

Gekürzte Regelsätze für Kinder ab dem Schulalter
Für Kinder gab es eine weitere unsichtbare Kürzung. Der neue Eckregelsatz von 345€ setzte sich zusammen aus dem alten Regelsatz von 297 € und 48 € für pauschalierte einmalige Beihilfen.
48 € entsprachen 16,2 % des alten Eckregelsatzes. Das war der Prozentsatz der tatsächlichen Ausgaben für einmalige Beihilfen vom Regelsatz für Alleinstehende. Bei Kindern aber betrugen die Ausgaben für einmalige Beihilfen 20% ihrer Regelsätze, nicht 16,2%. (Vierter Bericht über die Höhe des Existenzminimums von Kindern und Familien für das Jahr 2003 – Bundestags-Drucksache 14/7765)
Die einmaligen Beihilfen gingen also bei Kindern mit einem geringeren Prozentsatz in den Regelsatz ein als vorher.
Ferner: Wäre der Eckregelsatz auf 398 Euro festgesetzt worden, hätten die Regelsätze für minderjährige Kinder nach der bis dahin geltenden Alterseinstufung für 7-13-Jährige statt 207 € 259 Euro (65%) betragen müssen und für 14-17-Jährige statt 276 € 358 Euro (90%).

Für unter 7 Jährige dagegen wurde der Regelsatz von 50 bzw. 55% des Eckregelsatzes auf 60% angehoben. Sie bekamen ebenfalls 207 €. Der Regelsatz von unter 7 Jährigen wurde auf 60% des Eckregelsatzes, also auf 207 Euro angehoben. Hier hatte man keine Angst, dass gierige Eltern das Geld versaufen oder für Flachbildschirme verwenden. Die Erhöhung des Prozentsatzes glich aber im Wesentlichen nur die indirekte Kürzung des Eckregelsatzes aus. Wäre diese nicht erfolgt, hätten die Regelsätze für unter 7-Jährige 199 bzw. 219 Euro (50-55% des Eckregelsatzes) betragen müssen. Wenigstens Vorschulkindern wollte man die Folgen der unsichtbaren Kürzung des Eckregelsatzes nicht zumuten. Dass bei ihnen nicht gekürzt wurde, erschien als Erhöhung.

Bei Kindern ab dem Schulalter dagegen wurde zweimal gekürzt. Einmal durch die Nicht-Erhöhung des Eckregelsatzes auf 398€ und dann durch die Kürzung ihres Anteils vom Eckregelsatz.
Der Regelsatz von 7-13-Jährigen wurde von 65% auf 60% des Eckregelsatzes gesenkt. Ihr Bedarf wurde ab 2005 also mit dem von Säuglingen gleichgesetzt. 14-17-jährigen Jugendlichen wurde der Regelsatzanteil sogar von 90 auf 80% gekürzt. (vgl. Rainer Roth, Fördern durch Kürzen, Juni 2008 -( http://www .kinderarmut-durch-hartz4.de )

Damit wurde Kindern von 7 bis 17, also 1,5 Millionen Kindern, mit Einführung von Hartz IV abgesprochen, dass sie höhere Aufwendungen haben, weil sie wachsen. Doch auch das fiel nicht weiter auf.
Die Diskussion konzentrierte auf den Schulbedarf, der Schulkindern mit Hartz IV ebenfalls völlig gestrichen worden war, weil Schulkinder seit Hartz IV nicht mehr bekommen als Vorschulkinder.
Und auf das Mittagessen in schulischen Ganztagseinrichtungen, das weder im Regelsatz enthalten sein kann noch vor Hartz IV als einmalige Beihilfe gewährt wurde.

Was bedeutet Aberkennung des Wachstumsbedarfs?
Es wurde nicht mehr anerkannt, dass Schulkinder unter 14 mehr brauchen als Säuglinge und 14-17-Jährige mehr brauchen als erwachsene Haushaltsangehörige.
Wenn Kinder wachsen, brauchen sie mehr Kilocalorien als Energiebedarf.
Kinder unter 7 haben nach Angaben des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE) in Dortmund einen durchschnittlichen Energiebedarf von 1.250 kcal, Kinder von 7 bis 13 einen von 2.045 kcal und Kinder von 14 bis 17 dagegen von 2.700 kcal (eigene Berechnung nach Mathilde Kersting, Kerstin Clausen, Wie teuer ist eine gesunde Ernährung für Kinder und Jugendliche? Die Lebensmittelkosten der Optimierten Mischkost als Referenz für sozialpolitische Regelleistungen, Ernährungs-Umschau 9/2007 508 ff.).

Der Energiebedarf steigt mit der Größe und dem Gewicht von Kindern sowie mit ihrem Bewegungsbedarf. Da ein 13-jähriges Kind im Durchschnitt etwa zehnmal so viel wiegt wie ein Säugling und mehr als dreimal so groß ist, braucht es eben auch mehr als ein Säugling.
Das streiten die Hartz IV-Parteien ab.
CDU/CSU und SPD behaupteten noch Ende Juni 2008, dass “die finanziellen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende eine für Kinder und Jugendliche ausgewogene und bedarfsgerechte Ernährung gewährleisten” (Bundestags-Drucksache 16/9810 von 28.06.2008, 26).

Gewährleisten!
Um sich gesund ernähren zu können, benötigt ein Mensch nach Angaben des Forschungsinstituts für Kinderernährung (FKE) in Dortmund 2,16 Euro für 1.000 kcal. Erwachsene und Kinder unterscheiden sich nur in Bezug auf ihren Bedarf an Kilokalorien. Grundlage für diesen Wert waren die Mittelwerte der Preise von Discountern und Supermärkten in Dortmund und Speisepläne der sogenannten Optimierten Mischkost. Man muss den Mittelwert nehmen, da Discounter den Lebensmittelmarkt nur zu etwa 40% abdecken. Darin unterscheidet sich das FKE wohltuend von allen, die eine gesunde Ernährung mit Hartz IV für möglich halten und nur die Preise von Discountern dazu heranziehen. Bio-Lebensmittel, die einen gewissen Schutz bieten, sich nicht durch Nahrungsaufnahme zu vergiften, gehen allerdings aus Kostengründen nicht in die Speisepläne ein. Der Wert 2,16 € pro 1.000 bezieht sich auf das Preisniveau von Mai 2007. Bis Juli 2008 sind die Preise für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke um 8% gestiegen. Es wären heute also 2,33 Euro pro 1.000 kcal notwendig. Unterstellt wird, dass die gekauften Waren zu 100% verzehrt werden. Das ist natürlich nicht der Fall. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung geht von mindestens 10% Verlust aus: “Beim derzeitigen Versorgungsstatus in Deutschland, Österreich und der Schweiz dürften die Verluste an verzehrbarer Substanz im Durchschnitt 10-15% betragen. Sie sind bei Ernährungserhebungen (oder auch bei der Berechnung des individuellen Verzehrs) gesondert zu berücksichtigen.” (Deutsche Gesellschaft für Ernährung, Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr, Frankfurt 2000, 13f., im Folgenden zitiert als DACH 2000) Wenn wir also einen Zuschlag von 10% für Schwund und Verderb veranschlagen, ist das ein unterer Wert. Ein Mensch brauchte also im Juli 2008 mindestens 2,56 Euro für 1.000 kcal, um sich gesund ernähren zu können. Im Regelsatz von Kindern unter 14 sind 2,06 € für Nahrungsmittel und 0,25 € für nicht alkoholische Getränke pro Tag enthalten, ferner 0,29€ pro Tag für Genussmittel wie Süßigkeiten, Eis, usw.. Diese Summe rechnet das FKE zur Deckung des Kalorienbedarfs dazu. Kindern unter 14 stehen also 2,60 € pro Tag zur Verfügung.

Ergebnis: Mit 2,60 € pro Tag kann der Bedarf an gesunder Ernährung im Juli 2008 nur für 1 bis 3-Jährige gedeckt werden, für Kinder unter sieben nur zu etwas über 80%. Der Bedarf von Schulkindern von 7 bis 13 an gesunder Ernährung dagegen wird nur zur Hälfte gedeckt, ebenso der von 14 bis 17-Jährigen. Kindern ab dem Schulalter ist auch nach Auffassung des FKE mit den Mitteln von Hartz IV keine gesunde Ernährung möglich. Nicht einmal dann, wenn man nur bei Discountern einkaufen würde.

Unverdrossen behauptet die Bundesregierung: “In erster Linie sind die Eltern dafür verantwortlich, dass ihre Kinder ein gesundes, ausreichendes Frühstück sowie ein Pausenbrot oder ein Mittagessen bekommen.” (ebda. 26)

Aber selbst wenn Eltern die Richtlinien für gesunde Ernährung kennen und einhalten würden, würden sie es spätestens für Kinder ab dem Schulalter nicht mehr schaffen.

Es ist also schlicht gelogen, dass der “Sozialstaat” Schulkindern mit Hartz IV eine ausgewogene und bedarfsgerechte Ernährung ermögliche, die Eltern aber unfähig seien, dieses großherzige Angebot für ihre Kinder zu nutzen.

Mit den 2,60 € pro Tag anerkannter Verbrauchsausgaben für Essen und Trinken jedenfalls können Schulkinder unter 14 täglich nur 1.016 Kilokalorien in Form gesunder Ernährung zu sich nehmen. Nach Auffassung der Bundesregierung stellt das Hartz IV-Niveau das soziokulturelle Existenzminimum dar. “Die Regelleistung bildet das soziokulturelle Existenzminimum ab und umfasst auch die Ausgaben für die Nutzung von Verkehrsdienstleistungen im Schienen- und Straßenverkehr, Nahrungsmittel sowie Schulmaterial.” (1) Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Antwort vom 2.Juli 2007 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 16/5699, 5) Das offizielle soziokulturelle Existenzminimum bedeutet für Schulkinder unter 14, dass nicht einmal der Grundbedarf an Energie im Zustand des Schlafs und der Ruhe, den sogenannte Grundumsatz, mit gesunder Ernährung gedeckt werden kann und dass Hartz IV den Bewegungsmangel voraussetzt. Die Regierung beklagt zwar den Bewegungsmangel gerade bei Kindern aus Armutsfamilien, denkt aber nicht daran, ihnen die Energie zu Verfügung zu stellen, die man braucht, um sich zu bewegen. Bewegung ist mit Hartz IV zur Privatsache geworden.

Die Frage, wie man sich mit Hartz IV ernähren kann, sollte im Mittelpunkt der Kritik des gegenwärtigen Regelsatzes stehen, wenn man wirklich die Bedarfsdeckung an die erste Stelle setzen will.

Rechtfertigungen
Die Große Koalition rechtfertigt die Aberkennung des Wachstumsbedarfs, bis jetzt jedenfalls noch, mit vorgeschobenen Formelsätzen, die die wirklichen Gründe verdecken sollen.

a) – > “Der Gesetzgeber hat sich bei der Entscheidung für zwei Altersklassen an anerkannten international wissenschaftlichen Verfahren orientiert wie z.B. an der modifizierten OECD-Skala, die ebenfalls eine Altersklassifizierung für Personen unter 14 und ab 14 vorsieht.” (Bundestags-Drucksache 16/9810 von 28.06.2008, 16).
Die Wissenschaft sagt also, dass 13-jährige Kinder, die zehnmal so viel wiegen wie ein Säugling und dreimal so groß sind, die höhere Freizeit- und Mobilitätsbedürfnisse haben, weil sie schon laufen und sprechen können, denselben Bedarf haben wie Säuglinge? Das ist schlichter Schwachsinn, nicht Wissenschaft.
b) “Dem Ernährungsbedarf von Kindern und Jugendlichen wird durch die vollständige Berücksichtung der Verbrauchsausgaben für Nahrungsmittel und Getränke in der EVS bei der Regelsatzbemessung Rechnung getragen.” (ebda. 26)
Richtig ist, dass die Ausgaben für Nahrungsmittel und nicht-alkoholische Getränke eines Alleinstehenden bei der Regelsatzfestsetzung zu 100% anerkannt wurden, und damit auch bei Kindern.

Falsch ist, dass damit der „Ernährungsbedarf“ gedeckt sei. 7 bis 13-Jährige hatten im Jahre 2004 2,83 € für Essen und Trinken pro Tag. 2008 waren es noch 2,31 €. 14 bis 17-Jährige hatten vor Hartz IV 3,91 € pro Tag, jetzt 3,08 €. Der Ernährungsbedarf von Kindern ab dem Schulalter ist um rd. 20% gekürzt worden und soll trotzdem gedeckt sein? Und er soll gedeckt sein, auch wenn der besondere Bedarf für das Wachstum von Kindern gestrichen wurde? Es gibt noch eine Fülle anderer vorgeschobener Behauptungen, mit der Einwände selbstherrlich vom Tisch gewischt werden. Nachzulesen in der Broschüre „Fördern durch Kürzen.“ (S. 12 bis 17)

Angst, die wirklichen Gründe zu nennen
Wenn die Bundesregierung die wirklichen Gründe offen zugeben würde, müsste sie z.B. sagen: „Wir haben Kindern ab dem Schulalter den Wachstumsbedarf aberkannt, weil wir ihre Mütter bzw. Väter dazu motivieren, ihre Arbeitsunlust zu überwinden und auch für niedrige Löhne zu arbeiten. “Das kommt nicht so gut an, kommt aber der Sache schon näher. Hartz IV steht unter dem Motto “aktivierender Sozialstaat”, “Stärkung der Eigenverantwortung” und Befreiung aus der Abhängigkeit von staatlichen Leistungen. Das gilt auch für die Kinderregelsätze.

Indem der Sozialstaat Schulkindern Nahrung entzieht, will er sie damit zu besseren Schulleistungen aktivieren? Weniger essen – besser lernen? Wohl kaum. Eher geht es darum, die Eltern zu aktivieren. Denn “Die Arbeit mit Fürsorgeempfängern muss … konsequent auf die schnellstmögliche Aufnahme einer ggf. auch gering entlohnten Beschäftigung ausgerichtet werden. Dies muss auch bei der Ausgestaltung der Leistungshöhe im Blick gehalten werden, um falsche Anreize zum Verharren im Leistungsbezug zu vermeiden.” (BDA Stellungnahme Ausschussdrucksache 16/11)1022 Ausschuss für Arbeit und Soziales vom 13.06.2008, 4) Auf Deutsch, die “Ausgestaltung der Leistungshöhe” für Kinder ab dem Schulalter, d.h. ihre Senkung, dient dazu, die Eltern für Armutslöhne zu aktivieren. Je niedriger die Regelsätze für Kinder, desto eher sollen sich Eltern gezwungen sehen, ihre Arbeitskraft zu Armutslöhnen verkaufen. Das Kapital hat also aus Eigeninteresse ein massives Interesse am Ausbau der Kinderarmut.

Die FAZ, das Organ der Finanzzocker, fragte:” Lohnt es sich noch zu arbeiten?” und antwortete: „Das kommt darauf an: Je größer die Familie, desto kleiner der Abstand (der Löhne) zu Hartz IV. Für so manchen Arbeitnehmer lohnt es sich kaum, morgens aufzustehen.” (FAZ 05.12.2007) Das bedeutet: Kinder werden als das größte Problem angesehen. Sie hindern durch ihre Existenz die Eltern angeblich daran, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Sie sind der Anreiz für Faulheit und die eigentliche Ursache für Arbeitslosigkeit. Wie kann man da noch kinderfreundlich sein? Die FAZ stellt einen Durchschnittsverdiener im Gastgewerbe vor, verheiratet, zwei Kinder, der bei einem Bruttolohn von 1.621 Euro mtl. netto 1.313 Euro herausbekommt und zusammen mit Kindergeld ein Haushaltsnettoeinkommen von 1.593 Euro hat. Als Erwerbsloser im Hartz IV-Bezug hätte er 1.592 Euro. Unterstellt sind hierbei ein Kind zwischen 7 und 13 und eins über 14 sowie eine idyllische Warmmiete von 482 Euro. Da Lohn und Unterstützungsniveau wegen der Unterhaltungskosten der Kinder gleich sind, lohnt es sich für den Alleinverdiener angeblich nicht aufzustehen. BILD: “Wer arbeitet, ist der Dumme.” (12.02.2008) Regelsatzkürzungen bei Kindern z.B. bei 7 bis 17-Jährigen werden also als positives Heilmittel gegen die Faulheit der Eltern angesehen. Die Rechnung stimmt jedoch nicht ganz. Von den 1.313 Euro netto werden mindestens 310 Euro nicht als Einkommen auf den Hartz IV-Bedarf angerechnet. Sie stellen den Freibetrag für Erwerbstätige dar. Wer arbeitet hat also doch mehr, als wenn er nicht arbeitet. Die Gastronomiekraft hat einen Hartz IV-Anspruch von mindestens 310 Euro. Das verschweigen FAZ und BILD lieber, weil sie nicht wollen, dass Erwerbstätige ergänzendes Alg II beantragen. Sie wollen nur Erwerbstätige gegen Erwerbslose aufhetzen, die fürs Nichtstun angeblich genauso viel bekämen wie sie fürs Arbeiten.

“Klar ist, je höher die Grundsicherung ausfällt, umso mehr sinkt die Bereitschaft, auch zu einem geringeren Lohn zu arbeiten.” (Manfred Schäfers, Lohnt es sich noch zu arbeiten?, FAZ 05.12.2007) Die Bereitschaft zu einem geringeren Lohn zu arbeiten, steigt also, je geringer die Regelsätze sind. “Reguläre Arbeit muss sich mehr lohnen als bisher. Dem stehen die derzeitigen Regelungen des Arbeitslosengelds II entgegen. … Anreize zur Schaffung neuer Stellen zu erhöhen (,…) kann (wirksam) … nur mithilfe einer Absenkung des Regelsatzes … geschehen.” (Sachverständigenrat der Bundesregierung zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Mitteilung für die Presse, 08.09.2006)

Die Ökonomen des Kapitals bezeichnen das Hartz-IV/Sozialhilfe-Niveau als “Anspruchslohn”, unter dem man nicht bereit sei, Arbeit aufzunehmen. “Damit bestimmt die Sozialhilfe den unteren Eckpunkt der Lohnstruktur und legt eine Art Mindestlohn … fest.” (8) Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2002/03, Stuttgart 2002, 246) Der “Anspruchslohn” wird immer auf den Bedarf einer vierköpfigen Familie bezogen. Der Preis der Ware Arbeitskraft wird Lohn genannt. Eine Ware wird von ihren Käufern mehr nachgefragt, wenn sie im Preis fällt. So auch die Ware Arbeitskraft. Regelsatzsenkungen, auch die für Schulkinder, sind in den Augen der Käufer der Ware Arbeitskraft sozial, weil sie dazu beitragen, den Preis dieser Ware, also den “Anspruchslohn” und damit den Lohn zu senken und damit ihren Verkauf zu fördern. Sozial ist ja bekanntlich, was Arbeit schafft. Gerade die Leistungen für Kinder müssen vom Standpunkt des Kapitals aus eingeschränkt werden, um das Hartz IV-Niveau einer vierköpfigen Familie unter das Niveau von Armutslöhnen plus Kindergeld zu drücken. Zumindest dann, wenn es nicht möglich, den Eckregelsatz zu senken und darüber dann auch alle von ihm abhängigen Kinderregelsätze. Durch die Senkung der Regelsätze für Kinder durch Hartz IV wurde der “Anspruchslohn” von 1.668 Euro auf von der FAZ immer noch beklagten 1.592 Euro gesenkt. Die Kürzung der Regelsätze für Kinder von 7 bis 17 Jahren ist also letztlich ein kleiner Beitrag der Regierungsparteien zum Kampf für Lohnsenkungen im Interesse des Kapitals.

Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Weise, ein ehemaliger Manager, erklärte zum Regelsatz für Jugendliche von 14 bis 17: „Man muss auch kritisch hinterfragen, ob der Anreiz, eine Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen, für diese jungen Menschen möglicherweise deshalb zu gering ist, weil die Regelsätze noch zu hoch ausfallen.“ Weise fordert eine Absenkung der Zahlungen unter die Höhe der Ausbildungsvergütungen am untersten Rand. (Welt online 28.08.2008) Die Ausbildungsvergütungen am untersten Rand betragen 331 € brutto (Friseure) oder Maler/Lackierer (342 €). Netto ergibt das etwa 270 €. Das Leistungsniveau von Alg II umfasst auch den auf Jugendliche entfallenden Mietanteil. Im Durchschnitt dürfte es 400 € betragen. (281 € Regelsatz plus anteilige Warmmiete) Weise fordert also indirekt eine Senkung des Regelsatzes für Jugendliche von 130 € oder um fast die Hälfte. Die Kürzung um 35 €, die mit Hartz IV erfolgte, reicht ihm nicht. Die Regelsätze für Jugendliche erscheinen ihm immer noch als zu hoch. Ausbildungsvergütungen, die nicht einmal den Grundbedarf an Ernährung decken, sind für den obersten Arbeitslosenverwalter der Maßstab für das Existenzminimum von Jugendlichen. Im übrigen erwähnt auch er nicht, dass Jugendliche mit Armutsvergütungen Anspruch auf Hartz IV haben könnten.

Um den Druck auf die Aufnahme von Armutslöhnen zu erzeugen, denkt die Bundesregierung auch nicht daran, die Regelsätze mit den Lebenshaltungskosten fortzuschreiben. Die Kaufkraft der Kinderregelsätze wird damit ebenfalls gesenkt. Wenn die regelsatzrelevanten Ausgaben im Eckregelsatz mit den jeweiligen Preisen fortgeschrieben worden wären, müsste der Regelsatz von Kindern unter 14 statt 211 € jetzt 224€ betragen und der von 14-17-Jährigen 299€ statt 281€ betragen. Der Eckregelsatz müsste ab Juli 2008 374€ statt 351€ betragen (Preissteigerung Juli 2008 – 2003: plus 8,3% – nach Rudolf Martens, Zur Bestimmung eines bedarfsgerechten Existenzminimums für Kinder nach dem Statistikmodell gemäß § 28 SGB XII, Berlin 9/2008, 35).

Die Bundesregierung hat aber noch zwei weitere Motiv im Interesse des Kapitals:
* Die Aberkennung des Wachstumbedarfs von Kindern ergibt Einsparungen von 750 Mio. Euro pro Jahr oder rd. 3 Mrd. Euro seit Einführung von Hartz IV im Jahr 2005. Ein kleiner Beitrag dazu, die Senkung der Gewinn- und Kapitalanlagesteuern zu refinanzieren.
* Je niedriger die Regelsätze sind, desto niedriger ist das steuerfreie Existenzminimum, desto mehr Lohnsteuern kann die Regierung kassieren, desto niedriger können wiederum die Gewinn- und Kapitalanlagesteuern sein.

Die Rücknahme der Kürzung, d.h. die Anerkennung des Wachstumsbedarfs von Kindern ab dem Schulalter, stößt aus all diesen Gründen seitens der Arbeitgeber, der Medienkonzerne und der Bundesregierung auf erbitterten Widerstand. Der Widerstand von Kapital und Kabinett gegen eine deutliche Erhöhung des Eckregelsatzes bzw. ihr Widerstand gegen die Neubemessung und Erhöhung der Regelsätze für alle Kinder beginnt schon damit, dass sich die Bundesregierung bis jetzt energisch weigert, die Verweigerung des Wachstumsbedarfs von 1,5 Millionen Kindern von 7 bis 17 Jahren sofort zurückzunehmen.

Daraus geht hervor: Alle, die gegen Sozialabbau kämpfen, wenn sie nicht unglaubwürdig sein wollen, müssen sich dafür einsetzen, dass die Kürzungen des Leistungsniveaus von Schulkindern gegenüber der alten Sozialhilfe sofort rückgängig gemacht werden. Man kann diese Frage nicht einer noch nicht eingerichteten Kommission überlassen. Der DGB-Bundesvorstand “regt (zwar) an, die bisherigen zwei Altersgruppen in Zukunft durch drei oder vier Altersgruppen zu ersetzen, um eine altersgerechte Bemesssung der Regelsätze vornehmen zu können”, will es aber einer noch einzurichtenden Kommission überlassen, “hierzu einen Vorschlag (zu) entwickeln.” (Stellungnahme des DGB zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 16.Juni 2008, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache 16(11)1022neu, 11) Warum soll die Kürzung nicht sofort rückgängig gemacht werden?
Bis eine neue Regelung, auch vorbereitet durch eine Kommission, beschlossen wird, muss wenigstens sofort die alte Regelung wiederhergestellt werden.
Es ist unerträglich, dass Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die aus ihrer biologischen Entwicklung resultieren, erst “in Zukunft” möglicherweise wieder anerkannt werden sollen. Bei 14-17-Jährigen im Übrigen ist das Problem nicht die Altersgruppe, sondern die Kürzung des Regelsatzes dieser Altersgruppe. Es ist falsch, die Kürzungen bei Jugendlichen auszuklammern und sie folglich zu akzeptieren.

Um als Sofortmaßnahme die Wiederherstellung der alten Einstufung von Kindern und Jugendlichen von 7 bis 17 durchzusetzen, hat sich im April 2008 ein Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV gebildet. Es wurde initiiert durch das Aktionsbündnis Sozialproteste, den Arbeitslosenverband, das Erwerbslosen Forum Deutschland, das Rhein-Main-Bündnis und Tacheles. Das Bündnis hat im Mai 2008 eine entsprechende Plattform herausgegeben. 200 Organisationen, Organisationsgliederungen und Initiativen haben bisher her unterschrieben. Bisher sind rd. 4.000 Unterschriften dazu gesammelt werden. Jeder ist aufgefordert, sich Listen auszudrucken und selber Unterschriften zu sammeln. Es gibt auch ein kostenloses Flugblatt des Bündnisses dazu. Und eine Broschüre, die auf unserer website steht: http:/www.kinderarmut-durch-hartz4.de. Auf der Website kann man aktuelle Kommentare, Mailwechsel usw. zum Thema nachlesen.

Die Weigerung den Wachstumsbedarf anzuerkennen ist unhaltbar. Wir müssen dafür sorgen, dass das gekippt wird.

Gegen diese einfache Forderung gibt es aber auch bei den Oppositionsparteien im Bundestag, den Grünen und den Linken, sowie bei Wohlfahrtsverbänden und in Gewerkschaften, aber auch in der Sozialen Bewegung, erhebliche Widerstände.
a) Der Gesamtverband des Paritätischen z.B. sieht “keine Veranlassung, … eine schlichte Rücknahme der Kürzungen zu unterstützen”, weil der Verband einen deutlich weitergehenden Ansatz hat, z.B. höhere Kinderregelsätze fordert (Vorsitzende Heidi Merk an das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV, Brief vom 29.10.2008). Andere lehnen unsere Teilforderung ab, weil sie vorrangig auf eine deutliche Erhöhung des Eckregelsatzes setzen.
Das Bündnis bleibt bei der Forderung nach Rücknahme der Leistungskürzungen ebenfalls nicht stehen. Deshalb steht in der Plattform:” Alle Regelsätze, auch die für Erwachsene, sind viel zu niedrig und müssen deutlich erhöht werden!” Die Initiatoren selbst treten für ein Regelsatzniveau von 300€ für Kinder unter sieben, 360€ für Kinder zwischen 7 und 13 und 450€ für Kinder zwischen 14 und 17 ein, sowie für einen Eckregelsatz von mindestens 500€. Um einen praktischen Erfolg zu erringen, haben wir uns aber aus taktischen Gründen entschlossen, die Frage des Eckregelsatzes und der Neubemessung der Kinderregelsätze in der Plattform auszuklammern, weil es darüber zu unterschiedliche Auffassungen gibt und weil wir uns so eine größere Breite für den Kampf für eine aktuell durchsetzbare Teilforderung erhoffen.

b) Die Plattform wird ferner abgelehnt, weil es sich nicht lohnen würde, für die 40€ mtl. zu kämpfen, die 1,5 Millionen Kindern ab dem Schulalter entzogen wurden. Das ist höchst merkwürdig. Wenn der Eckregelsatz mit Einführung von Hartz IV um 40€ auf 305€ gesenkt worden wäre, hätte man dann auch gesagt, es lohne sich nicht, für die Rücknahme zu kämpfen, weil man für viel weitergehende Forderungen eintrete? Damals war die Forderung des Paritätischen ja 415€. Die Ablehnung, die Rücknahme einer so empörenden Kürzung bei Schulkindern zu fordern, fördert Passivität und Resignation. Wer nicht für kleine Forderungen eintreten kann bzw. für ihre Durchsetzung kämpft, ist auch nicht imstande, Größeres durchzusetzen. Im Übrigen geht es nicht nur um 40 €, sondern darum, dass CDU/CSU und SPD die Grundbedürfnisse von Kinder missachten, während es gleichzeitig pausenlos erklären, kein Kind solle zurückgelassen und jedes Kind solle gefördert werden. Bei wem das kein Empörung weckt, dem ist nicht zu helfen.

c) Manche stellen ihr umfassendes Konzept, Kinder durch eine Kindergrundsicherung aus Hartz IV herauszuholen, unserer Teilforderung nach Anerkennung des Wachstumsbedarfs von Kindern auf dem Boden von Hartz IV entgegen. Das verstehen sie unter der Umsetzung des Ziels “Weg mit Hartz IV”. Diese Strömung ist in der Linkspartei stark vertreten.

Es gibt 7,3 Mio. Menschen, die sich auf dem Boden von Hartz IV verteidigen müssen, wenn sie nicht untergehen wollen. Sie müssen einen Kleinkrieg führen und können nicht nur Propaganda für ein neues Sozialsystem auf dem Boden des Kapitalismus betreiben, das Armut und Kinderarmut beseitigen soll. Die Forderung nach der Rücknahme der kinderfeindlichen Kürzungen gehört zu diesem Kleinkrieg dazu.

d) Einige lehnen unsere Plattform ab, weil sie die Formulierung enthält:” Die Bundesregierung geht damit (mit der Gleichsetzung des Bedarfs aller Kinder unter 14) zurück in die Zeit von Weimar und des Faschismus, in der sogar der Bedarf von Kindern bis 16 mit dem von Säuglingen gleichgesetzt wurde.” Der Vorstand des Paritätischen z.B. weist das “nachdrücklich” zurück und erklärt: ”Ein solcher Vergleich ist nicht nur inhaltlich falsch, sondern geht auch an den Problemen vorbei.” (Brief vom 29.10.2008, siehe oben)

Wir haben die Altersstufen vor und nach Einführung des Bundessozialhilfegesetzes verglichen und Folgendes festgestellt. In Weimar war es bei den damals verantwortlichen kommunalen Trägern üblich, unabhängig vom Alter für jedes Kind den gleichen Richtsatz zu zahlen. Es gab nur wenige Ausnahmen z.B. Frankfurt, wo wenigstens ab 6, also ab Schuleintritt, höhere Richtsätze gezahlt wurden als für jüngere Kinder. Der Runderlass des Reichsarbeitsministeriums vom 31.10.1941 setzte reichseinheitlich fest, dass Kinder unter 16 dengleichen Bedarf und damit dengleichen Richtsatz zu haben hatten. Das galt bis 1955. Die Gleichsetzung des Bedarfs von unter 14-Jährigen mit Säuglingen galt also von Weimar bis 1955 und jetzt wieder ab 2005. Merk bezeichnet das als “inhaltlich falsch”. Inwiefern, hat sie nicht nötig bekanntzugeben. Weil wir in der Frage der Anerkennung von Wachstumsbedürfnissen von Kindern den Rückschritt in die Zeit von Weimar und des Faschismus offenlegen, werfen uns einige vor, den Faschismus zu verharmlosen. Wir haben nicht das politische System des heutigen Deutschland mit dem Faschismus verglichen, sondern die Behandlung der Alterseinstufungen im Fürsorgesystem. Wer unseren Standpunkt so verfälscht, sucht nach Vorwänden, die Plattform des Bündnisses gegen Kinderarmut durch Hartz IV nicht zu unterstützen.
Den Rückschritt hinter die Sozialhilfe in die Zeit des Faschismus zu vertuschen, stellt allerdings eine Beschönigung des kinderfeindlichen Charakters von Hartz IV dar. Die Wirkung jedenfalls ist, dass die für die kinderfeindlichen Regelsatzkürzungen verantwortlichen Parteien aus der Schusslinie kommen, vor allem die SPD.

Unsere Forderung ist nur dann durchsetzbar, wenn sie offensiv vertreten wird.
Wird sie von denen, die an der Kinderarmut etwas ändern wollen, abgelehnt, trägt das dazu bei, den bestehenden Zustand, d.h. die Kürzung der Regelsätze für Kinder von 7 bis 17 Jahren um etwa 40 € mtl. aufrechtzuerhalten. Das aber kommt wiederum der Bundesregierung entgegen, die Regelsatzerhöhungen in jeder Form ablehnt.
Wenn wir die Rücknahme der Regelsatzkürzungen bei Kindern durchsetzen könnten, würde das auch den Kampf für eine Erhöhung des Eckregelsatzes erleichtern, der ja ebenfalls, wenn auch „nur“ indirekt, gekürzt worden ist.

Es tut sich was
a) Von der Leyen bezeichnete die Erhöhung des Kindergelds um 10 € als “gut angelegtes Geld für Familien”. (PM 15.10.2008) Bei Hartz IV-Familien wird Kindergeld voll als Einkommen angerechnet. Wie können Hartz IV-Familien zehn Euro gut anlegen, die sie gar nicht haben? Hält von der Leyen sie nicht um Familien?
Inzwischen fordern aber alle Arbeits- und Sozialminister der Länder, dass die Kindergelderhöhung nicht auf Hartz IV angerechnet wird, wenn schon keine Neubemessung der Kinderregelsätze in Sicht ist. Sie geben dem Druck nach, bei Kindern aus Armutsfamilien etwas getan werden muss. Das ist wenigstens etwas.
Das Bündnis gegen Kinderarmut durch Hartz IV hat allerdings schon vor drei Monaten allen Arbeits- und Sozialminister die Frage gestellt, warum sie sich nicht für die sofortige Rücknahme der Kürzung der Regelsätze ab dem Schulalter einsetzen. Bis heute hielt es kein Minister für nötig, darauf zu antworten. Aus den Stellungnahmen von Ministern der Arbeits- und Sozialministerkonferenz geht jedoch indirekt eine Antwort hervor.
NRW-Sozialminister Laumann (CDU): “Die entscheidende Frage ist: Entsprechen die bisherigen Sätze den Lebenswirklichkeiten der Kinder?” Es gehe dabei nicht allein um mehr Geld, sondern viel mehr um die Frage, ob die derzeitige Einteilung in zwei Stufen richtig sei.
Die Minister wissen also noch nicht, ob Kinder ab dem Schulalter höhere Sätze als Säuglinge brauchen. Wir sollten es ihnen beibringen.

b) Die Hartz IV-Regelleistungen decken nicht das soziokulturelle Existenzminimum von Familien und verstoßen daher gegen das Grundgesetz. Zu diesem Ergebnis kam der 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts (LSG).
Aus der Pressemitteilung des LSG geht hervor, dass es für das Gericht nicht ersichtlich war, warum 13-jährige Kinder trotz höheren Bedarfs die gleiche Summe erhielten wie Neugeborene. Für die Begrenzung ihres Regelsatzes auf 60% fehle es an einer hinreichenden Begründung. Der besondere Bedarf von Kindern werde durch die Regelleistungen nicht berücksichtigt. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Einreichens seiner Klage eine Tochter im Alter von 12 Jahren. Das LSG hat beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage erhoben. Es ist durchaus möglich, dass das Verfassungsgericht die Aberkennung des Wachstumsbedarfs von 7-13-Jährigen für verfassungswidrig erklärt und die Bundesregierung auffordert, die Regelsatzverordnung zu ändern.
Das Urteil ist eine große Unterstützung für unsere Kampagne für die sofortige Rücknahme der Regelsatzkürzungen für Kinder ab dem Schulalter. Der Beschluss des LSG Hessen vom 29.10.2008 (Az.: L6 AS 336/07) wird voraussichtlich in der 51. Kalenderwoche 2008 unter http://www .rechtsprechung.hessen.de ins Internet eingestellt.

c) “Wenn … die Erhöhung des Hartz IV-Regelsatzes als wichtigstes Ziel ausgegeben wird, obwohl man die zentrale Bedeutung der Bildungspolitik erkannt hat, passt das nicht zusammen,” erklärte die Kanzlerin. (FAZ 19.11.2008, 15) Merkel stört sich daran, dass die Erhöhung des Regelsatzes für Schulkinder das vorrangige Thema ist. Sie meint nach wie vor, man könne Bildung von Kindern fördern, in dem man ihnen Nahrungsmittel entzieht. Dass der Regelsatz von Kindern ein vorrangiges Thema ist, stört sie. Also sorgen wir dafür, dass sie weiter gestört wird.

Schulbedarfspaket statt kommunaler Schulfonds
Noch Ende Juni antwortete die Bundesregierung auf die Frage, ob im Regelsatz von Schulkindern tatsächlich Schulkosten enthalten seien, mit einem klaren Ja. “Die regelsatzrelevante Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) enthält u.a. Ausgaben für Bücher, incl. Schulbücher, Gebrauchsgüter für Bildung, Schreibwaren und Zeichenmaterial.” (Deutscher Bundestag Drucksache 16/9810 vom 26.06.2008, 15) Umgerechnet also mtl. 6,66 €. Trotz Lernmittelfreiheit sollten sogar Schulbücher im Regelsatz enthalten sein.

Am 6.Oktober 2008 jedoch verabschiedete die Bundesregierung ein Schulbedarfspaket in Höhe von 150 Mio. €. Damit sollen bei Beginn jeden Schuljahres 100€ an Kinder aus Hartz IV-Familien zusätzlich gezahlt werden, allerdings nur bis zur 10. Klasse. Gestern noch war ein Schulbedarf in Höhe von mindestens 6,66€ mtl. im Regelsatz enthalten. Heute ist der Schulbedarf in Höhe von 8,33€ mtl. nicht mehr im Regelsatz enthalten. Man sieht: was gestern noch nicht möglich war, kann heute möglich werden, wenn man nicht locker lässt. Das Schulpaket des Bundes ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den bisher 54 teilweise hart erkämpfen kommunalen Schulfonds, die in der Regel niedrigere Beträge aufweisen und z.T. nur für Mittagessen oder Einschulungskosten aufkommen. Sie waren nur Hilfslösungen, die umfassendere Lösungen vorbereitet haben. (vgl. http://www .erwerbslos.de) Der Rückzieher der Hartz IV-Parteien ist ein kleiner Erfolg all der Kräfte, die sich für kommunale Schulfonds, für die Wiedergewährung einmaliger Beihilfen, für die Erhöhung der Regelsätze usw. eingesetzt haben.

Der Schulbedarf wird inzwischen wieder anerkannt, wenn auch erst ab September nächsten Jahres und nicht für Kinder aus Armutsfamilien, die Abitur machen wollen.
Es ist möglich durchzusetzen, dass auch der Wachstumsbedarf von Schulkindern wieder anerkannt wird. Allerdings nur, wenn genügend Kräfte gewonnen werden, die sich dafür einsetzen.
Es wäre schön, wenn die heutige Veranstaltung ein kleiner Impuls in dieser Richtung sein könnte.

Quelle: elo-forum.net – 23. Januar 2009 – Von Rainer Roth
Link zum Pressebericht: www .elo-forum.net/hartz-iv/hartz-iv/-200901232132.html

Diese Rabatte bekommen Sozialhilfe-Empfänger

Samstag, Januar 17th, 2009

Viele Unternehmen werben mit Sonderrabatten um finanzschwache Kunden, doch ihre Angebote sind nicht immer die günstigste Wahl. Auch manche Kommunen gewähren Beziehern von Hartz IV, Sozialhilfe und Altersgrundsicherung Ermäßigungen – beispielsweise bei Bahnfahrten oder Zoobesuchen.
Der Energiekonzern Eon gilt als Vorreiter in Sachen Sozialrabatt. Seit 2008 bietet der Branchenriese im Versorgungsgebiet seiner sieben Regionaltöchter einen Sondertarif für sozial Bedürftige an. Voraussetzung ist, dass der Kunde eine Befreiung von den Rundfunkgebühren durch die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) vorweisen kann. Dann werden – je nach Region – zwischen 65 und 120 Euro pro Jahr auf die Stromrechnung erlassen. Einige kleinere Regionalversorger haben nachgezogen: Die Stadtwerke Barmstedt und die Rewag in Regensburg beispielsweise gewähren seit 2008 ebenfalls einen Preisnachlass. Und bei den Stadtwerken Weimar müssen Arbeitslose sogar schon seit 1992 weniger zahlen.

Doch Verbraucherschützer sind skeptisch. „Ein Sozialtarif ist nicht immer der günstigste Tarif, der auf dem Markt zu haben ist“, warnt Ramona Siefke von der Verbraucherzentrale Thüringen. „In unserem Gebiet gibt es einige Angebote, die weit unter dem Eon-Sozialtarif liegen.“ Aribert Peters vom Bund der Energieverbraucher sagt: „Grundsätzlich ist es gut, dass man überhaupt etwas macht.“ Allerdings seien die Preisnachlässe viel zu gering, um Bedürftige spürbar zu entlasten. Zudem sollte auch Strom sparen belohnt werden: „Neben einem Rabatt aus sozialen Gründen, sollte es auch eine Prämie für Kunden geben, die wenig Energie verbrauchen.“

Keine Schnäppchen bei der Telekom
Einen Sozialtarif fürs Telefonieren hat bislang nur die Telekom im Programm. Auch hier ist eine Befreiung von den Rundfunkgebühren die Voraussetzung, dann erlässt das Unternehmen 6,94 Euro auf Telekom-Verbindungen ins In- und Ausland. Die Grundgebühren bleiben aber unverändert, und die sind bei der Telekom happig: Mindestens 17,95 Euro verlangt der „Rosa Riese“ für einen Standard-Telefonanschluss. Da bei anderen Anbietern eine einfache Telefon-Flatrate inklusive Grundgebühr bereits ab 9,95 Euro zu haben ist, ist dieses Angebot nicht gerade ein Schnäppchen.

Was wissen Sie über Hartz IV?
Das Unternehmen Easybell ergänzt den Telekom-Sozialtarif mit einem DSL-Sozialtarif. Das Prinzip: Wer das „Call & Surf Start“-Paket der Telekom wählt, erhält für 24,95 Euro einen analogen Telefonanschluss und DSL 2000. Normalerweise muss der Kunde noch die Gebühren für die Einzelverbindungen beim Telefonieren und einen Minutenpreis für das Surfen im Internet oben drauf zahlen. Schnell landet man so bei über 30 Euro. Mit dem Telekom-Sozialtarif kann man sich aber 6,93 Euro fürs Telefonieren gut schreiben lassen, und Easybell stellt 1024 Megabyte Datenvolumen zum Surfen kostenlos zur Verfügung. „So können Kunden mit Gesamtkosten von 24,95 Euro pro Monat kalkulieren“, sagt Easybell-Geschäftsführer Andreas Bahr – allerdings nur, wenn sie sich beim Telefonieren und Surfen hart am Riemen reißen und die Limits nicht überschreiten. Da aber zum gleichen Preis bei anderen Anbietern Telefon- und Internet-Flatrate im Paket zu haben sind, ist der Vorschlag wenig attraktiv. Das räumt auch Bahr ein: „Es ist schwer, Billigtarife noch mit Sozialtarifen zu unterbieten. Das Sozialpaket ist vor allem für Kunden interessant, die auf dem Land wohnen und auf die Telekom angewiesen sind.“

Sozialrabatte auch im Museum und Theater
Auch viele Kommunen bieten Vergünstigungen für bedürftige Bürger an. In zahlreichen Städten, beispielsweise in Köln, Frankfurt am Main, München und neuerdings auch in Berlin gibt es Sozialpässe, mit denen die Inhaber städtische Einrichtungen wie Schwimmbäder, Theater und Museen ermäßigt nutzen können. Teilweise sind auch externe Anbieter mit im Boot: In Berlin sind mit dem Pass günstigere Eintrittskarten zu Fußballspielen zu haben, in Iserlohn bieten einige Geschäfte einen kleinen Rabatt beim Einkaufen.

Oft sind auch verbilligte Fahrten für Bus und Bahn inbegriffen. Arbeitsloseninitiativen kritisieren aber, dass auch Sozialtickets für Menschen mit Hartz-IV-Budget kaum erschwinglich seien. In Köln beispielsweise kostet eine Monatskarte 28,40 Euro – das sei immer noch doppelt so hoch wie der im ALG II vorgesehene Satz für den Nahverkehr, so die Erwerbsloseninitiative Kölner Erwerbslose in Aktion.

Quelle: welt.de – 15. Januar 2009 – Von Wibke Schmidt
Link zum Pressebericht: www .welt.de/finanzen/nutzwert/article3029706/Diese-Rabatte-bekommen-Hartz-IV-Empfaenger.html

ALG II – Töten per Gesetz?

Samstag, Januar 17th, 2009

Es sollen sich schämen und zuschanden werden, die nach meinem Leben trachten; es sollen zurückweichen und beschämt werden, die mir Unheil ersinnen! (Psalm 35-4)
„Wer auch immer in die Mühlen der Hartz 4-Behörde (ARGE) gerät, muss wissen, dass man ihm ab jetzt nach dem Leben trachtet.“

So oder ähnlich klingt es mir aus der Gruppe der Betroffenen immer häufiger entgegen. Grund genug für mich, die Frage danach zu stellen in wie weit das zutrifft oder ob es in Zukunft denkbar wäre.

Der weitaus größte Teil unserer Gesellschaft würde heute diese Behauptung als völlig absurd brandmarken, da es moralisch nicht vorstellbar ist, dass es für das Töten ganzer Gesellschaftsgruppen eine Rechtfertigung gibt. Wer sollte so etwas wollen oder gar ausführen? Wo und wer sind die Täter? Wie könnte unsere stabile soziale Ordnung kippen und wie wird tatsächlich mit dem Prekariat in Deutschland umgegangen?

Der Sozialpsychologe Harald Welzer schreibt in seiner Analyse „Täter“ hierzu, dass es viel schwächer „um die Stabilität und Trägheit moderner Gesellschaften in ihrem psychosozialen Binnengefüge bestellt ist“, als wir gemeinhin glauben.

Er stellt fest: „Nicht nur abstrakte, analytische Kategorien wie Gesellschaft und Herrschaftsformen verändern sich innerhalb weniger Monate, sondern dass die konkreten Menschen, die diese Gesellschaft bilden und ihre Herrschaftsform realisieren, sich in ihren normativen Orientierungen, in ihren Wertüberzeugungen, in ihren Identifikationen und auch in ihrem zwischenmenschlichen Handeln schnell verändern können.“

Die Grundlage des erzeugten Wandels
Die sogenannten Hartz-4-Gesetze, im weitesten Sinne jedoch der gesamte Umbau des Sozialgesetzbuches – hier insbesondere SGB II, SGB III und SGB XII – sind Ausdruck eines sozialen Umdenkens im Herrschaftsbereich der Politik und der bestimmenden Wirtschaft hin zu dem „altbekannten „Sozialdarwinismus“.

Zunächst erfolgte die technische Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe im SGB II unter der Bezeichnung ALG II (Arbeitslosengeld). Schon diese Bezeichnung ist völlig irreführend, denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine Art staatlicher Grundsicherung für Arbeitsuchende und nicht um eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung.

Dabei muss der Arbeitsuchende nachweisen, dass er tatsächlich Arbeit sucht, daneben aber auch, dass er erwerbsfähig ist, dass er nicht vermögend ist und dass er nicht auf andere Weise seine Existenz aus eigener Kraft sichern kann.

Mit dem Antrag auf ALG II verliert der Bittsteller seine subjektive und seine objektive Souveränität. Er untersteht ab sofort der absoluten Verfügungsgewalt des ARGE- Sachbearbeiters.

Wer nur den § 1 SGB II durchliest, wird seine Zustimmung nicht verweigern.

Doch schon ab dem nächsten Paragraphen wird deutlich, dass das SGB II nicht in einer Sozialtheorie gründet, wo die Stärkeren den Schwächeren einer Gesellschaft solidarisch helfen, sondern in dem Zwang, eine Gegenleistung zu erbringen. Willkürliches Fordern dominiert real, das Helfen und Fördern ist die vollkommene Ausnahme.

Dieses Gesetz legitimiert im Weiteren sogar eklatante Rechtsbrüche gegenüber anderen höherwertigen Rechtsgütern wie den Menschenrechten, den Rechten des Grundgesetzes oder auch des Strafrechtes.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass ausgerechnet in der BRD wieder Zwangsarbeit möglich wird?

Selbst wenn man die gesetzliche Grundlage z.B. der „Arbeitsgelegenheit MAE“ noch für rechtens hält, so gerät sie durch den massenhaften amtlichen Missbrauch, die missbräuchliche Inanspruchnahme sogenannter „Träger“ und die gesellschaftliche Zustimmung de facto zur Zwangsarbeit und wird sogar noch durch höchste Gerichte bestätigt.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass es einen gesellschaftlichen Konsens zur staatlich verordneten Freiheitsberaubung gibt?

Im Strafgesetzbuch heißt es unter § 239:
Freiheitsberaubung begeht, wer einen Menschen durch Einsperren oder auf andere Art vorsätzlich und widerrechtlich daran hindert, seinen Aufenthaltsort nach eigenem Willen zu verlassen (§ 239 StGB).
Das SGB II verbietet dies für rund 8 Millionen Bürger über die sogenannte Präsenzpflicht und verstößt damit auch gegen ein Grundrecht dieser Bürger.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass sogenannte Sozialfahnder willkürlich in die Wohnungen von Betroffenen stürmen, um die Anzahl der Zahnbürsten im Bad auszuforschen, weil anonyme Denunzianten Anzeige erstattet haben sollen?

Die willkürliche illegale Erhebung von persönlichen Daten ist an der Tagesordnung.

Möglich ist dies allerdings nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Akzeptanz und veränderter Moralauffassung.

Die Veränderung der Moral
Harald Welzer kommt in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass die Ursache dieser Akzeptanz in einer vorangegangenen „radikalen Ausgrenzung Anderer“ zu finden ist.
In einer ersten Zusammenfassung habe ich bereits vor drei Jahren festgestellt, dass seit dem Jahr 2005 mit Einführung von Hartz 4 – und auch schon vorher – eine im Nachkriegsdeutschland beispiellose Hetzkampagne gegen die Gruppe der Arbeitslosen los getreten wurde. Wolfgang Clement, damals Minister für Arbeit und Soziales war einer der übelsten Protagonisten dieser einsetzenden Hetze.

Es folgte eine in der Medien-Öffentlichkeit stattfindende unsägliche Diskussion, die gezielt mit falschen Zahlen untermauert wurde. Ziel war, die Arbeitslosen als faul und kriminell zu diskreditieren. Ein Feindbild entsteht und wird ständig genährt.

„Parasitäre Schmarotzer“ werden „gnadenlos gerecht“ von Sozialfahndern gejagt und entlarvt: Helena Fürst und Helge Hofmeister sind Hartz VI-Betrügern auf der Spur.

Ein anderer Satz macht ebenfalls deutlich, mit welchen Mitteln die individuelle Deutungsmatrix verschoben wird: „Eine freiheitliche Gesellschaft, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen, kann nicht überleben. Ohne Anstand und Moral kann die Erneuerung unseres Sozialstaates nicht gelingen“ (W. Clement). Bereits hier deutet Clement das latente Bedrohungspotential dieser Schmarotzergruppe an.

Frau Merkel weist in dem Zusammenhang darauf hin, wie viel Geld in den sozialen Haushalt fließt und spricht im gleichen Zusammenhang vom Sozialmissbrauch. Die schmarotzenden Parasiten werden langsam zur Gefahr des Staates und seiner Bürger, besonders der „anständigen“ Bürger. Nun brauchte man nur noch genaue Kriterien der Zugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit zu dieser Schmarotzergruppe zu definieren. Dazu diente besonders die Unterteilung in „nützlich für die Gesellschaft“ oder eben nicht. Wer der Gesellschaft nichts gibt (geben kann) verdient auch nicht ihre Hilfe. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Das heißt ja nichts anderes, als dass man den Unnützen, den Almosenempfängern ihre Daseinsberechtigung abspricht.

Da liegt der Ruf nach „intensiver Schädlingsbekämpfung“ doch sehr nahe. Er erscheint sogar berechtigt. Helena Fürst und Helge Hofmeister werden zu legitimierten Vollstreckern.

Töten wird zum gesellschaftlich integrierten Handeln. (Welzer)

Die Moral der Sanktionierer
Die ARGE wurde von Anfang an vom Gesetzgeber als Verfolgungsbehörde konstruiert. Das SGB II liefert die grundlegende legitime Handhabe dazu. Erlasse und Handlungsanweisungen der Arbeitsagentur, die wiederum unter der Aufsicht des Ministers für Arbeit und Soziales steht, ergänzen dort, wo durch Erfahrung die Durchsetzung der Gesetze besser gewährleistet werden soll. Die ARGE setzt alles durch mit Hilfe von individuell durchaus unterschiedlichen Menschen, die zwar eine individuelle Moral besitzen, sich aber dem Handlungsrahmen ihrer Gruppe unterordnen, auch wenn die Aufgabe „mal unangenehm“ ist. Die Moral des Individuums wird nach Welzer also kontextualisiert; hier durch den geänderten gesellschaftlichen Orientierungsrahmen und eine situativ gebildete Gruppennorm, in der das Sanktionieren legitim und vor allem als notwendig angesehen wird.

So setzt sich eine immer schlimmere Sanktions- oder besser Strafpraxis durch, die bereits in einigen Fällen gesetzwidrig und in fast allen Fällen lebensbedrohend ist.

Die Sanktionen bestehen aus dem Entzug mehr oder weniger großer Geldbeträge und enden auch nicht dann, wenn sich ein Leistungsempfänger botmäßig verhält. Herbert Masslau beschreibt das sehr treffend: „der Herr will die Peitsche knallen lassen. Und genau dies ist die neue Qualität: Bestrafung um jeden Preis und Willkür bei der die Bestrafung auslösenden Tatbestände.

Es handelt sich hier um eine erhebliche gesetzliche Erweiterung des persönlichen Handlungsrahmens und Ermessensspielraumes der einzelnen ARGE-Sachbearbeiter.

Die moralische Identifikation einzelner Sachbearbeiter geht inzwischen sogar so weit, dass sie zunehmend Gründe konstruieren, um möglichst viele und möglichst lang andauernde Sanktionen zu verhängen. Erst kürzlich hat der Gesetzgeber diese Praxis noch gestützt, in dem er die aufschiebende Wirkung einer solchen Maßnahme bei Widerspruch oder Klage per Gesetz neuerdings abgeschafft hat. Hier bildet sich das Potential der zukünftigen Täter bereits ab, denn das Töten ist nicht nur ein plötzlich auftretender singulärer Akt der physischen Vernichtung. Aber schließlich führt „man“ (auf dieser Handlungsebene) ja nur bestehende Gesetze und Anordnungen aus!

Diese Sanktionierungspraxis hat auch schon Todesopfer gefordert. Hier wird der Kontext zum ALG II aber moralisch wie juristisch verneint.

Selber Schuld? Sicher nicht, denn wer die vielen undurchsichtigen Gesetze, Erlasse und Ausführungsanweisungen nicht sehr genau kennt und nicht sehr „widerstandsfähig“ ist, gerät ganz schnell in die Sanktionsmaschinerie von „Gnadenlos und Co.

Sanktionen beschleunigen den Sterbeprozess.
„Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ!
Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhen.
Und was noch nicht gestorben ist,
das macht sich auf die Socken nun.“ (B. Brecht)

Sind wir nicht alle schon ein bisschen tot? Mundtot, Augen tot, Seele tot, Gewissen tot, Mitgefühl tot? Die Entlastungsstrategie für das individuelle moralische Empfinden und der vielleicht vorhandenen Empathie funktionieren wie eh und je.

Die „instrumentalisierte“ Armut als Helfer
Die Armut stellt sich als gravierender Mangel an lebenswichtigen Gütern – Essen, Obdach, Kleidung, sozialer Sicherung – dar, aber auch als Mangel von Gesundheit, Bildung, Transport und Kommunikationsmöglichkeiten sowie sozialer Sicherheit und Rechtsschutz unabhängig von der allgemeinen Verfügbarkeit.

Die Armut nimmt schnell zu, erfasst immer mehr Kreise außerhalb der Gruppe der Arbeitslosen und wird langfristig zum Helfer für frühzeitiges Ableben.

Die Armutskonferenz stellt bereits 2005 fest:
„Die nationale Armutsgrenze beträgt nach neuerem EU-Standard 60 % des gemittelten Nettoäquivalenzeinkommens (Median, neue OECD-Skala) in einem Land. Auf der Datenbasis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) berechnet, lag 2003 in Deutschland die Armutsgrenze gemäß des 2. Nationalen Armuts- und Reichtumsberichtes bei 938 € (2005 liegt die Armutsgrenze vermutlich bei 980 € oder höher.“(Ronald Blaschke, Arbeitslosenverband Deutschland, Sächsische Armutskonferenz, Juni 2005)

Dagegen erhält ein Leistungsbezieher nach SGB II 347,- € als Regelsatz und zusätzlich durchschnittlich noch einmal 317,- € (Berechnung des BMAS 2005), also insgesamt 664,- € . Diese Zahlen machen klar, dass es sich bei den Leistungen nach SGB II lediglich um existenzsichernde Beträge handelt, die maximal beim Existenzminimum lagen. Inzwischen hat sich die reale Situation durch Preiserhöhungen enorm verschlechtert.

Als Existenzminimum (auch: Notbedarf) bezeichnet man die Mittel, die zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse notwendig sind, um physisch zu überleben; dies sind vor allem Nahrung, Kleidung, Wohnung und eine medizinische Notfallversorgung. Selbst das ist zur Zeit nicht mehr gewährleistet.

Hunger ist kein Fremdwort mehr in Deutschland und Hunger macht schwach und krank, dazu gefügig und manipulierbar.

Wird dieses Existenzminimum durch Sanktionen auch noch gekürzt, erhöht sich das ohnehin bei Armut vorhandene Mortalitätsrisiko erheblich.

Armut und Arbeitslosigkeit führen zu erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten und einem erhöhten Bedarf an ärztlicher Versorgung. Dies belegen zahlreiche Studien: Eine durchschnittlich um bis zu sieben Jahre geringere Lebenserwartung haben arme Menschen gegenüber Wohlhabenden. Ihr Risiko, schwer zu erkranken, vorzeitig zu versterben, einen Unfall zu erleiden oder von Gewalt betroffen zu sein, ist in jeder Lebensphase etwa doppelt so hoch.

Hierzu passt auch die wenig beachtete Erklärung Lauterbachs, dass Arbeitnehmer mit geringen Einkommen in der Regel nur noch 11 Jahre Rente beziehen, wo gegen Arbeitnehmer mit besserem Verdienst eine mittlere statistische Rentenbezugserwartung von 18 Jahren haben. Provozierte Armut dient also langfristig zur Sanierung der Renten durch forciert verfrühtes Ableben der Armen. Der „Lösungsansatz“ ist gewollt.

Die Gruppe der Armen und die der Arbeitslosen wird nun nur noch subsummiert unter dem Begriff der Unterschicht (Prekariat), die insgesamt sozial wertlos ist bzw. die übrige „anständige Gesellschaft“ sogar erheblich belastet und in ihrem Fortschritt schädigt.

Das von dieser Unterschicht ausgehende Bedrohungspotential muss zu gegebener Zeit nur kampagneartig überhöht dargestellt werden, damit die Tötung als – sicher schwere, aber nicht unlösbare – Aufgabe normativ integriert werden kann.

Töten wird so zum gesellschaftlich integriertem Handeln und zwar nicht unter Verlust der Moral, sondern durch die Verschiebung des moralischen Handlungsrahmens.

Die wissenschaftliche Analyse von Harald Welzer wird in ihrem Ergebnis unterstützt durch das bekannte Milgram-Experiment und dessen spätere Widerholung durch Burger, auch wenn letzteres sich unter anderen Bedingungen abspielte. In ihrer Aussage sind sie sehr ähnlich und die Schlussfolgerungen können erschrecken.

Doch die Analyse von Welzer ist insofern hilfreicher, als sein sozialpsychologischer Ansatz erstmalig plausibel erklärt, warum harmlose Durchschnittsbürger und gutmütige Familienväter – auch ohne autoritäre Befehle – plötzlich imstande sind, massenhaft Menschen zu töten ( C.R. Browning, Die Zeit)

Zusammenfassung
Der bewusst erzeugte Wandel des sozialen Handlungsrahmens, die Verschiebung der sozialen Referenzparameter und die zunehmende Dynamisierung dieses Änderungsprozesses führt bereits jetzt zu einer grundsätzlichen Teilnahmebereitschaft an den neuen Spielarten der Ausgrenzung, der Entrechtung und Beraubung (z.B. langjährige Erarbeitung kleiner Vermögen zur Sicherung des Alters).

Auf der untersten Ebene der Exekutive findet man kaum jemanden, der sich dieser Praxis verweigert. Übertrieben gesagt: Mitschießen oder nicht? Jedenfalls wird auf dieser Ebene „mitsanktioniert“, da es normenkonform legitimiert ist und die individuelle Menschlichkeit des einzelnen Sachbearbeiters die Hungerleidenden nicht wahrnehmen muss. Auch das Wissen um die implizit mögliche Tötung durch Hunger verändert die individuelle Handlungsentscheidung nicht. Das Bewusstsein des kollektiven Aufgehobenseins und der Verantwortungslosigkeit (die Delegation der Verantwortung an einen übergeordneten moralischen Rahmen) ist das größte Potential zur Unmenschlichkeit.

Just in solchen Momenten des individuell möglichen Hinterfragens der eigenen Handlung treten dann die sogenannten „Gewissenserleichterer“ wie Sarazin und Co. auf und liefern Erklärungen und „Beweise“ dafür, dass die Klagen der Opfer nicht berechtigt sind.

„Wenn die Energiekosten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können” (Sarazin)

Die klare Aufteilung der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, zugehörig oder nicht macht alles einfach und hier beginnt die Eskalation der Vernichtungsgewalt bei dem Individuum unter Verlust bzw. Aufgabe der persönlichen Autonomie.

Hier sieht Welzer den Grund dafür, dass aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Vollstrecker des Unglücks der Anderen.

Eine Verschärfung der sozialen Konflikte ist – u.a. durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit – ohne große Probleme vorhersehbar und damit kommen wir einer Endlösung ein gutes Stück näher.

Quelle: elo-forum.net – 14. Januar 2009 – Von Hajo Freese
Link zum Pressebericht: www. elo-forum.net/hartz-iv/hartz-iv/-200901142118.html