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Justizsenatorin von der Aue: Hartz-IV-Regeln sind Murks

Dienstag, Januar 13th, 2009

Harte Worte von Gisela von der Aue. Die SPD-Justizsenatorin vermisst klare Vorgaben für die Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Sie will Verbesserungen im Bund durchsetzen und die Gesetze überarbeiten.
Unpräzise und viel zu kompliziert: Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat am Wochenende die Hartz- IV-Gesetze scharf kritisiert. Angesichts der „enormen Klageflut an Berlins Sozialgerichten, die nicht abebbt“, sei die Justiz immer mehr „ein Reparaturbetrieb für schlechte Gesetze“. Die gesetzlichen Regelungen seien nicht praxistauglich und vermurkst, die Ermessenspielräume der zuständigen Jobcenter zu groß, es fehlten klare Vorgaben, sagte die SPD-Politikerin. Das müssten die Richter „ausbaden“. Mehr als 60 Prozent der 33 000 Verfahren, die im vergangenen Jahr am Berliner Sozialgericht eingingen, waren Klagen gegen Bescheide zur Arbeitslosenhilfe und- und Lebensunterhaltsicherung im Rahmen von Hartz IV.

„Das ist ein unfassbar großer Mount Everest aus Akten“, schilderte am Sonntag der Sprecher der Justizverwaltung, Daniel Abbou, die Situation. Geklagt wird wegen verweigerter Mietübernahmen, gegen Arbeitslosengeld-Bescheide, Einkommensanrechnungen oder „zu geringe“ Heizkostenzuschüsse. Im August 2008 registrierte das Sozialgericht den 50 000. Klagefall, seit die Hartz-IV-Reform 2005 in Kraft trat. Abbou: „Die Akten stapeln sich tatsächlich bis unter die Decke, die Richter verschwinden dahinter.“

Als Soforthilfe will die Justizverwaltung den 85 Berliner Sozialrichtern dieses Jahr 40 zusätzliche Kollegen zur Seite stellen. Damit werde allerdings nicht die Ursache der Misere bekämpft, betont ihr Sprecher. In erster Linie müsse es darum gehen, die bundesweit Verwirrung stiftenden gesetzlichen Regelungen zu überarbeiten. Sie müssten besser verständlich sein und mit der „Lebenswirklichkeit so in Übereinstimmung gebracht werden, dass Antragsteller und Behörden Rechtssicherheit haben“ – auch ohne die Sozialgerichte zu bemühen.

Mit der Hartz-IV-Reform wurde erstmals bundesweit die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe verwirklicht. Das stellt den Gesetzgeber und die Arbeitsbehörden bis heute vor große Probleme, weil von Anfang an Erfahrungen fehlten. Ein Hauptfehler war und ist aus Sicht der Justizverwaltung sowie der Sozialexperten der rot-roten Koalition im Abgeordnetenhaus, Ülker Raradziwill (SPD) und Elke Breitenbach (PDS), dass der Bundesgesetzgeber „zu vieles einfach offenlässt“.

Beispiel Mietübernahme: Laut Gesetz steht Hartz-IV-Empfängern zwar ein „angemessener Wohnraum“ zu, doch was dies konkret bedeutet, muss über die Ausführungsverordnungen der Kommunen oder Länder geregelt werden. Deshalb gibt es bundesweit ganz unterschiedliche, mal strengere, mal großzügigere Vorgaben hinsichtlich Größe und Miethöhe, was viele Betroffenen veranlasst, Vergleiche anzustellen und mit ihrer Klage bis vors Bundesozialgericht zu ziehen. Höchstrichterliche Urteile erzwingen dann wiederum ständige Änderungen im Gesetz und bei den Durchführungsverordnungen. Die Hartz-IV-Gesetzgebung „wurde schon 190 Mal modifiziert“, sagt Elke Breitenbach. Berlins Jobcenter seien darauf noch immer unzureichend vorbereitet, sie bräuchten mehr und qualifizierteres Personal zur Betreuung der 417 000 Hartz-IV-Empfänger in der Stadt.

Das fordern auch die Justizverwaltung und die SPD. „Jeder zweite Kläger bekommt vor Gericht Recht,“ heißt es dort. Dies zeige die „hohe Fehlerquote“ der Berliner Jobcenter. Sie seien überfordert – was deren Sprecher Olaf Möller allerdings dementiert. Die Unzulänglichkeit des Gesetzes sieht er als Hauptgrund der Misere an. Man bemühe sich aber um mehr Personal und weitere Schulungen. Außerdem würden derzeit etliche befristete Jobcenter-Stellen in Dauerstellen umgewandelt. Das soll die bisherige Rotation bei den Sachbearbeitern verringern, man will erworbene Kompetenzen in Sachen Hartz IV möglichst langfristig nutzen.

Justizsenatorin Gisela von der Aue will nun auf Bundesebene aktiv werden. Unter ihrer Federführung sollen die Justizminister der Länder noch im Januar erstmals in Berlin zusammenkommen und bis November 2009 „wirksame Gesetzesverbesserungen“ erarbeiten.

Quelle: tagesspiegel.de – (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.01.2009)
Link zum Pressebericht: www .tagesspiegel.de/berlin/Landespolitik-Gisela-von-der-Aue-Hartz-IV;art124,2703406

Bremer Sonderweg zur Bewältigung der Hartz IV-Reform

Dienstag, Januar 13th, 2009

Bremer Sonderweg zur gerichtlichen Bewältigung der Hartz IV-Reform erfolgreich
Der Sonderweg, den Bremen von 2005 bis 2008 bei den Hartz IV-Verfahren gegangen ist, war nach Auskunft des Justizsenats Bremen erfolgreich. Bremen hatte die Verfahren als einziges Bundesland übergangsweise der Verwaltungsgerichtsbarkeit übertragen. Wie der Justizsenat am 09.01.2009 mitteilt, konnte dadurch die Hartz IV-Reform bei den Gerichten bewältigt werden. Seit dem 01.01.2009 sind auch in Bremen wieder die Sozialgerichte für Hartz IV-Prozesse zuständig.

Verwaltungsgerichte bewältigten Verfahrenswelle
Die Verwaltungsgerichte seien nach ihrer Geschäftslage in der Lage gewesen, die Arbeitslosengeld II-Verfahrenswelle der ersten Jahre zu bewältigen, erläutert der Justizsenat. Das Sozialgericht habe gleichzeitig auf Grund des Wegfalls der früheren Arbeitslosenhilfe-Verfahren die Ende 2004 noch bedrückend hohe Zahl unerledigter Verfahren abbauen können. Mittlerweile sei das Sozialgericht auf zehn Richter aufgestockt worden. Auch die Service-Stellen des Sozialgerichts seien verstärkt worden. Die personelle Ausstattung soll Mitte des Jahres 2009 anhand der Entwicklung der Verfahrenszahlen zudem erneut überprüft werden, so der Bremer Justizsenat. Seinen Angaben zufolge bleiben die Ende 2008 beim Verwaltungsgericht noch anhängigen rund 1.500 Alg II-Verfahren beim Verwaltungsgericht. Dieses habe auch in der Zeit von 2005 bis 2008 mit einer nur geringen Personalverstärkung auskommen müssen – es sei lediglich um zwei Richterstellen aufgestockt worden.

Quelle: beck-aktuell-Redaktion, Verlag C. H. Beck, 12. Januar 2009
Link zum Pressebericht: rsw.beck.de/rsw/shop/default.asp?docid=273626&docClass=NEWS&site=Beck%20Aktuell&from=HP.10

Undercover mit Hartz IV

Dienstag, Januar 13th, 2009

ROSTOCK – Anderthalb Jahre hat Markus Breitscheidel freiwillig von Hartz IV und Mini-Löhnen gelebt. Seine Erfahrungen als Leiharbeiter und Saisonkraft hat er in seinem Buch “Arm durch Arbeit” zusammengestellt. In der Universitätsbuchhandlung Weiland spricht er morgen Abend über die Misere des Niedriglohnsektors.
Warum haben Sie sich entschlossen, sich nach ihrem Buch “Abgezockt und totgepflegt”, in dem es um die Missstände in Pflegeheimen geht, dem Problem der Leiharbeit zuzuwenden?

Markus Breitscheidel: Weil der Riss zwischen Arm und Reich seit der Einführung der Agenda 2010 immer größer geworden ist. Und weil auch Menschen in meinem privaten Umfeld, die neu in Arbeit gekommen sind, von dieser nicht leben konnten. Ich habe von vielen gehört, die Hartz IV empfangen, dass sie große Probleme mit den Behörden hatten. Das wollte ich mir anschauen und sehen, wie die Agenda 2010 wirkt.

Was war dabei Ihr Ziel?
Breitscheidel:
Meine Recherchen sind relativ ergebnisoffen. Ich habe nicht gewusst, dass ich zu Opel komme oder zu Bayer. Für mich persönlich habe ich gehofft, die ein oder andere Erklärung dafür zu finden, warum der Mittelstand wegbricht.

Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen?
Breitscheidel: Ich habe unter meinem Künstlernamen gearbeitet. Damit bin ich berechtigt, auch Urkunden zu unterschreiben.


Welche Erfahrungen haben Sie in den Betrieben gemacht?
Breitscheidel: Durch die Leiharbeit wird der werkbetriebliche Arbeiter immer mehr ersetzt und verdrängt. Das ist bei Opel und Bayer schon in Massen geschehen. Man ist nicht davor zurückgeschreckt, die top ausgebildete Jugend anstatt sie fest einzustellen über eine Leiharbeitsfirma an den gleichen Arbeitsplatz zurückzuführen. Nur dann mit 30 Prozent weniger Gehalt. Ich habe festgestellt, dass die Industrien schauen, dass sie die Arbeiter so günstig wie möglich bekommen. Und dass wir alle durch die Aufstockung noch einen steuerlichen Anreiz dazu schaffen, mehr Leute im Niedriglohnsektor einzustellen. Vor 2003 hatten wir etwa 180 000 Menschen in Deutschland in der Leiharbeit und mittlerweile sind wir bei mehr als 1,3 Millionen. An der Maschine, an der ich gearbeitet haben, waren von sechs Arbeitern drei Leiharbeiter für 6,40 Euro die Stunde angestellt, die das Gleiche gemacht haben wie die Werkarbeiter für 17,50 Euro. Das Klima ist entsprechend schlecht.

Wie haben Sie sich gefühlt?
Breitscheidel: Man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse und so wird man auch behandelt. Das Unwürdigste war, dass man es nach 160 Stunden Schichtarbeit trotzdem nicht geschafft hat, Netto mehr zu verdienen als die Hartz IV Bezüge und sich dann jeden Monat wieder in die lange Schlange der Arbeitslosen auf dem Amt einreihen musste, um die so genannte Aufstockung zu beantragen.

Quelle: nnn.de – 12. Januar 2009 – Von iane
Link zum Pressebericht: www .nnn.de/lokales/rostock/artikeldetails/article/218/undercover-mit-hartz-iv.html