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Konjunkturpaket II & Hartz IV

Samstag, Januar 17th, 2009

Grundsätzlich halte ich es für richtig und notwendig, dass die Bundesregierung auf die Auswirkungen einer neo-liberalen Globalisierung, denn diese ist die Ursache für die Bankenkrise, mit konjunkturstützenden Maßnahmen reagiert, allerdings sollte man auch auf die Fehler dieser Maßnahmen hinweisen.

Wem bitte soll zum Beispiel die Abwrackprämie von 2500 Euro nützen? Diese Idee ist so absurd, dass sie zu einer Situation führt, die ich bis dato für völlig ausgeschlossen hielt: Ich bin in diesem Punkt mit Herrn Sinn einer Meinung. Wer wird diese Prämie nutzen? Wer ein Auto fährt, das neun Jahre oder älter ist wird nicht in der Lage sein ein neues Auto oder einen Jahreswagen zu kaufen. Neuwagenkäufer verkaufen ihr Fahrzeug in der Regel nach drei Jahren um ein optimales Verkaufsergebnis zu erzielen.

Viel sinnvoller wäre es gewesen hätte der Staat energieeffiziente Fahrzeuge deutscher Hersteller aufgekauft und z.B. Hartz IV Empfängern oder Geringverdienern Darlehen für den Erwerb dieser Fahrzeuge ermöglicht. Manch ein Zeitarbeiter und manche alleinerziehende Mutter hätte dann ihr umweltschädigendes Vehikel ganz freiwillig und ohne Prämie verschrottet.

Ein Kinderbonus von 100 Euro hört sich zwar gut an – aber wäre es nicht sinnvoller eine solche Unterstützung nur gezielt an Bedürftige und dafür höher zu zahlen? Frau von der Layen kann auf einen Kinderbonus ebenso verzichten wie Oskar Lafontaine. Wenn dafür die allein erziehende Mutter die von Hartz IV lebt einen höheren Betrag erhalten würde wäre dies sicher auch im Sinne der genannten Politiker.

Schulen sollen saniert werden, eine dringend notwendige Angelegenheit die man in einer Krisensituation in Angriff nimmt, während man sie bei einer guten Wirtschaftslage ignoriert hat. Schon beschämend, wenn diese Sanierung nur im Hinblick auf die Arbeitsplätze der Sanierer, nicht aber im Interesse der Bildungssituation unsere Kinder vorgenommen wird. So wundert es auch kaum, dass im Konjunkturpaket II kein Cent für mehr Lehrer oder eine bessere Lehrerausbildung vorhanden ist. Auch die Ungleichheit bei den
Bildungschancen hätte man kompensieren können. Gutscheine für Nachhilfeunterricht die bei Erfolgen verlängert werden wären sicher für viele Familien die von Hartz IV leben müssen sehr willkommen. Gleichzeitig würden Sie die Unternehmen die im Bildungssektor tätig sind nicht nur stützen, sondern auch zu einer effizienteren Arbeit motivieren.

Jetzt wäre auch die Zeit gewesen einen Mindestlohn einzuführen. Man hätte ihn mit der Option von Zuschüssen verbinden können für Firmen die nicht in der Lage sind diesen zu bezahlen. Allerdings hätten die Zuschüsse dann eine völlige Offenlegung der Finanzsituation dieser Firmen zur Voraussetzung haben müssen. D.h. die Firmen hätten zumindest alle Bankbewegungen der letzten sechs Monate offen legen müssen.

Es gäbe so viele Möglichkeiten etwas sinnvolles zu tun – bei dem von der großen Koalition vorgelegten Paket kommt mir allerdings der Verdacht das es hier in erster Linie um Wahlgeschenke und nicht um ernsthafte Zukunftsinvestitionen geht. Dietmar Brach, Arbeitslosenhilfe Rheinland-Pfalz

Quelle: gegen-hartz.de – 16.01.2009- Von Dietmar Brach
Link zum Pressebericht: www .gegen-hartz.de/nachrichtenueberhartziv/konjunkturpaket665222.php

ALG II – Töten per Gesetz?

Samstag, Januar 17th, 2009

Es sollen sich schämen und zuschanden werden, die nach meinem Leben trachten; es sollen zurückweichen und beschämt werden, die mir Unheil ersinnen! (Psalm 35-4)
„Wer auch immer in die Mühlen der Hartz 4-Behörde (ARGE) gerät, muss wissen, dass man ihm ab jetzt nach dem Leben trachtet.“

So oder ähnlich klingt es mir aus der Gruppe der Betroffenen immer häufiger entgegen. Grund genug für mich, die Frage danach zu stellen in wie weit das zutrifft oder ob es in Zukunft denkbar wäre.

Der weitaus größte Teil unserer Gesellschaft würde heute diese Behauptung als völlig absurd brandmarken, da es moralisch nicht vorstellbar ist, dass es für das Töten ganzer Gesellschaftsgruppen eine Rechtfertigung gibt. Wer sollte so etwas wollen oder gar ausführen? Wo und wer sind die Täter? Wie könnte unsere stabile soziale Ordnung kippen und wie wird tatsächlich mit dem Prekariat in Deutschland umgegangen?

Der Sozialpsychologe Harald Welzer schreibt in seiner Analyse „Täter“ hierzu, dass es viel schwächer „um die Stabilität und Trägheit moderner Gesellschaften in ihrem psychosozialen Binnengefüge bestellt ist“, als wir gemeinhin glauben.

Er stellt fest: „Nicht nur abstrakte, analytische Kategorien wie Gesellschaft und Herrschaftsformen verändern sich innerhalb weniger Monate, sondern dass die konkreten Menschen, die diese Gesellschaft bilden und ihre Herrschaftsform realisieren, sich in ihren normativen Orientierungen, in ihren Wertüberzeugungen, in ihren Identifikationen und auch in ihrem zwischenmenschlichen Handeln schnell verändern können.“

Die Grundlage des erzeugten Wandels
Die sogenannten Hartz-4-Gesetze, im weitesten Sinne jedoch der gesamte Umbau des Sozialgesetzbuches – hier insbesondere SGB II, SGB III und SGB XII – sind Ausdruck eines sozialen Umdenkens im Herrschaftsbereich der Politik und der bestimmenden Wirtschaft hin zu dem „altbekannten „Sozialdarwinismus“.

Zunächst erfolgte die technische Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe im SGB II unter der Bezeichnung ALG II (Arbeitslosengeld). Schon diese Bezeichnung ist völlig irreführend, denn in Wirklichkeit handelt es sich um eine Art staatlicher Grundsicherung für Arbeitsuchende und nicht um eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung.

Dabei muss der Arbeitsuchende nachweisen, dass er tatsächlich Arbeit sucht, daneben aber auch, dass er erwerbsfähig ist, dass er nicht vermögend ist und dass er nicht auf andere Weise seine Existenz aus eigener Kraft sichern kann.

Mit dem Antrag auf ALG II verliert der Bittsteller seine subjektive und seine objektive Souveränität. Er untersteht ab sofort der absoluten Verfügungsgewalt des ARGE- Sachbearbeiters.

Wer nur den § 1 SGB II durchliest, wird seine Zustimmung nicht verweigern.

Doch schon ab dem nächsten Paragraphen wird deutlich, dass das SGB II nicht in einer Sozialtheorie gründet, wo die Stärkeren den Schwächeren einer Gesellschaft solidarisch helfen, sondern in dem Zwang, eine Gegenleistung zu erbringen. Willkürliches Fordern dominiert real, das Helfen und Fördern ist die vollkommene Ausnahme.

Dieses Gesetz legitimiert im Weiteren sogar eklatante Rechtsbrüche gegenüber anderen höherwertigen Rechtsgütern wie den Menschenrechten, den Rechten des Grundgesetzes oder auch des Strafrechtes.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass ausgerechnet in der BRD wieder Zwangsarbeit möglich wird?

Selbst wenn man die gesetzliche Grundlage z.B. der „Arbeitsgelegenheit MAE“ noch für rechtens hält, so gerät sie durch den massenhaften amtlichen Missbrauch, die missbräuchliche Inanspruchnahme sogenannter „Träger“ und die gesellschaftliche Zustimmung de facto zur Zwangsarbeit und wird sogar noch durch höchste Gerichte bestätigt.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass es einen gesellschaftlichen Konsens zur staatlich verordneten Freiheitsberaubung gibt?

Im Strafgesetzbuch heißt es unter § 239:
Freiheitsberaubung begeht, wer einen Menschen durch Einsperren oder auf andere Art vorsätzlich und widerrechtlich daran hindert, seinen Aufenthaltsort nach eigenem Willen zu verlassen (§ 239 StGB).
Das SGB II verbietet dies für rund 8 Millionen Bürger über die sogenannte Präsenzpflicht und verstößt damit auch gegen ein Grundrecht dieser Bürger.

Wer hätte vor fünf Jahren geglaubt und für möglich gehalten, dass sogenannte Sozialfahnder willkürlich in die Wohnungen von Betroffenen stürmen, um die Anzahl der Zahnbürsten im Bad auszuforschen, weil anonyme Denunzianten Anzeige erstattet haben sollen?

Die willkürliche illegale Erhebung von persönlichen Daten ist an der Tagesordnung.

Möglich ist dies allerdings nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Akzeptanz und veränderter Moralauffassung.

Die Veränderung der Moral
Harald Welzer kommt in seiner Analyse zu dem Ergebnis, dass die Ursache dieser Akzeptanz in einer vorangegangenen „radikalen Ausgrenzung Anderer“ zu finden ist.
In einer ersten Zusammenfassung habe ich bereits vor drei Jahren festgestellt, dass seit dem Jahr 2005 mit Einführung von Hartz 4 – und auch schon vorher – eine im Nachkriegsdeutschland beispiellose Hetzkampagne gegen die Gruppe der Arbeitslosen los getreten wurde. Wolfgang Clement, damals Minister für Arbeit und Soziales war einer der übelsten Protagonisten dieser einsetzenden Hetze.

Es folgte eine in der Medien-Öffentlichkeit stattfindende unsägliche Diskussion, die gezielt mit falschen Zahlen untermauert wurde. Ziel war, die Arbeitslosen als faul und kriminell zu diskreditieren. Ein Feindbild entsteht und wird ständig genährt.

„Parasitäre Schmarotzer“ werden „gnadenlos gerecht“ von Sozialfahndern gejagt und entlarvt: Helena Fürst und Helge Hofmeister sind Hartz VI-Betrügern auf der Spur.

Ein anderer Satz macht ebenfalls deutlich, mit welchen Mitteln die individuelle Deutungsmatrix verschoben wird: „Eine freiheitliche Gesellschaft, in der die Ehrlichen sich als Dumme fühlen, kann nicht überleben. Ohne Anstand und Moral kann die Erneuerung unseres Sozialstaates nicht gelingen“ (W. Clement). Bereits hier deutet Clement das latente Bedrohungspotential dieser Schmarotzergruppe an.

Frau Merkel weist in dem Zusammenhang darauf hin, wie viel Geld in den sozialen Haushalt fließt und spricht im gleichen Zusammenhang vom Sozialmissbrauch. Die schmarotzenden Parasiten werden langsam zur Gefahr des Staates und seiner Bürger, besonders der „anständigen“ Bürger. Nun brauchte man nur noch genaue Kriterien der Zugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit zu dieser Schmarotzergruppe zu definieren. Dazu diente besonders die Unterteilung in „nützlich für die Gesellschaft“ oder eben nicht. Wer der Gesellschaft nichts gibt (geben kann) verdient auch nicht ihre Hilfe. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Das heißt ja nichts anderes, als dass man den Unnützen, den Almosenempfängern ihre Daseinsberechtigung abspricht.

Da liegt der Ruf nach „intensiver Schädlingsbekämpfung“ doch sehr nahe. Er erscheint sogar berechtigt. Helena Fürst und Helge Hofmeister werden zu legitimierten Vollstreckern.

Töten wird zum gesellschaftlich integrierten Handeln. (Welzer)

Die Moral der Sanktionierer
Die ARGE wurde von Anfang an vom Gesetzgeber als Verfolgungsbehörde konstruiert. Das SGB II liefert die grundlegende legitime Handhabe dazu. Erlasse und Handlungsanweisungen der Arbeitsagentur, die wiederum unter der Aufsicht des Ministers für Arbeit und Soziales steht, ergänzen dort, wo durch Erfahrung die Durchsetzung der Gesetze besser gewährleistet werden soll. Die ARGE setzt alles durch mit Hilfe von individuell durchaus unterschiedlichen Menschen, die zwar eine individuelle Moral besitzen, sich aber dem Handlungsrahmen ihrer Gruppe unterordnen, auch wenn die Aufgabe „mal unangenehm“ ist. Die Moral des Individuums wird nach Welzer also kontextualisiert; hier durch den geänderten gesellschaftlichen Orientierungsrahmen und eine situativ gebildete Gruppennorm, in der das Sanktionieren legitim und vor allem als notwendig angesehen wird.

So setzt sich eine immer schlimmere Sanktions- oder besser Strafpraxis durch, die bereits in einigen Fällen gesetzwidrig und in fast allen Fällen lebensbedrohend ist.

Die Sanktionen bestehen aus dem Entzug mehr oder weniger großer Geldbeträge und enden auch nicht dann, wenn sich ein Leistungsempfänger botmäßig verhält. Herbert Masslau beschreibt das sehr treffend: „der Herr will die Peitsche knallen lassen. Und genau dies ist die neue Qualität: Bestrafung um jeden Preis und Willkür bei der die Bestrafung auslösenden Tatbestände.

Es handelt sich hier um eine erhebliche gesetzliche Erweiterung des persönlichen Handlungsrahmens und Ermessensspielraumes der einzelnen ARGE-Sachbearbeiter.

Die moralische Identifikation einzelner Sachbearbeiter geht inzwischen sogar so weit, dass sie zunehmend Gründe konstruieren, um möglichst viele und möglichst lang andauernde Sanktionen zu verhängen. Erst kürzlich hat der Gesetzgeber diese Praxis noch gestützt, in dem er die aufschiebende Wirkung einer solchen Maßnahme bei Widerspruch oder Klage per Gesetz neuerdings abgeschafft hat. Hier bildet sich das Potential der zukünftigen Täter bereits ab, denn das Töten ist nicht nur ein plötzlich auftretender singulärer Akt der physischen Vernichtung. Aber schließlich führt „man“ (auf dieser Handlungsebene) ja nur bestehende Gesetze und Anordnungen aus!

Diese Sanktionierungspraxis hat auch schon Todesopfer gefordert. Hier wird der Kontext zum ALG II aber moralisch wie juristisch verneint.

Selber Schuld? Sicher nicht, denn wer die vielen undurchsichtigen Gesetze, Erlasse und Ausführungsanweisungen nicht sehr genau kennt und nicht sehr „widerstandsfähig“ ist, gerät ganz schnell in die Sanktionsmaschinerie von „Gnadenlos und Co.

Sanktionen beschleunigen den Sterbeprozess.
„Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ!
Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhen.
Und was noch nicht gestorben ist,
das macht sich auf die Socken nun.“ (B. Brecht)

Sind wir nicht alle schon ein bisschen tot? Mundtot, Augen tot, Seele tot, Gewissen tot, Mitgefühl tot? Die Entlastungsstrategie für das individuelle moralische Empfinden und der vielleicht vorhandenen Empathie funktionieren wie eh und je.

Die „instrumentalisierte“ Armut als Helfer
Die Armut stellt sich als gravierender Mangel an lebenswichtigen Gütern – Essen, Obdach, Kleidung, sozialer Sicherung – dar, aber auch als Mangel von Gesundheit, Bildung, Transport und Kommunikationsmöglichkeiten sowie sozialer Sicherheit und Rechtsschutz unabhängig von der allgemeinen Verfügbarkeit.

Die Armut nimmt schnell zu, erfasst immer mehr Kreise außerhalb der Gruppe der Arbeitslosen und wird langfristig zum Helfer für frühzeitiges Ableben.

Die Armutskonferenz stellt bereits 2005 fest:
„Die nationale Armutsgrenze beträgt nach neuerem EU-Standard 60 % des gemittelten Nettoäquivalenzeinkommens (Median, neue OECD-Skala) in einem Land. Auf der Datenbasis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) berechnet, lag 2003 in Deutschland die Armutsgrenze gemäß des 2. Nationalen Armuts- und Reichtumsberichtes bei 938 € (2005 liegt die Armutsgrenze vermutlich bei 980 € oder höher.“(Ronald Blaschke, Arbeitslosenverband Deutschland, Sächsische Armutskonferenz, Juni 2005)

Dagegen erhält ein Leistungsbezieher nach SGB II 347,- € als Regelsatz und zusätzlich durchschnittlich noch einmal 317,- € (Berechnung des BMAS 2005), also insgesamt 664,- € . Diese Zahlen machen klar, dass es sich bei den Leistungen nach SGB II lediglich um existenzsichernde Beträge handelt, die maximal beim Existenzminimum lagen. Inzwischen hat sich die reale Situation durch Preiserhöhungen enorm verschlechtert.

Als Existenzminimum (auch: Notbedarf) bezeichnet man die Mittel, die zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse notwendig sind, um physisch zu überleben; dies sind vor allem Nahrung, Kleidung, Wohnung und eine medizinische Notfallversorgung. Selbst das ist zur Zeit nicht mehr gewährleistet.

Hunger ist kein Fremdwort mehr in Deutschland und Hunger macht schwach und krank, dazu gefügig und manipulierbar.

Wird dieses Existenzminimum durch Sanktionen auch noch gekürzt, erhöht sich das ohnehin bei Armut vorhandene Mortalitätsrisiko erheblich.

Armut und Arbeitslosigkeit führen zu erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsraten und einem erhöhten Bedarf an ärztlicher Versorgung. Dies belegen zahlreiche Studien: Eine durchschnittlich um bis zu sieben Jahre geringere Lebenserwartung haben arme Menschen gegenüber Wohlhabenden. Ihr Risiko, schwer zu erkranken, vorzeitig zu versterben, einen Unfall zu erleiden oder von Gewalt betroffen zu sein, ist in jeder Lebensphase etwa doppelt so hoch.

Hierzu passt auch die wenig beachtete Erklärung Lauterbachs, dass Arbeitnehmer mit geringen Einkommen in der Regel nur noch 11 Jahre Rente beziehen, wo gegen Arbeitnehmer mit besserem Verdienst eine mittlere statistische Rentenbezugserwartung von 18 Jahren haben. Provozierte Armut dient also langfristig zur Sanierung der Renten durch forciert verfrühtes Ableben der Armen. Der „Lösungsansatz“ ist gewollt.

Die Gruppe der Armen und die der Arbeitslosen wird nun nur noch subsummiert unter dem Begriff der Unterschicht (Prekariat), die insgesamt sozial wertlos ist bzw. die übrige „anständige Gesellschaft“ sogar erheblich belastet und in ihrem Fortschritt schädigt.

Das von dieser Unterschicht ausgehende Bedrohungspotential muss zu gegebener Zeit nur kampagneartig überhöht dargestellt werden, damit die Tötung als – sicher schwere, aber nicht unlösbare – Aufgabe normativ integriert werden kann.

Töten wird so zum gesellschaftlich integriertem Handeln und zwar nicht unter Verlust der Moral, sondern durch die Verschiebung des moralischen Handlungsrahmens.

Die wissenschaftliche Analyse von Harald Welzer wird in ihrem Ergebnis unterstützt durch das bekannte Milgram-Experiment und dessen spätere Widerholung durch Burger, auch wenn letzteres sich unter anderen Bedingungen abspielte. In ihrer Aussage sind sie sehr ähnlich und die Schlussfolgerungen können erschrecken.

Doch die Analyse von Welzer ist insofern hilfreicher, als sein sozialpsychologischer Ansatz erstmalig plausibel erklärt, warum harmlose Durchschnittsbürger und gutmütige Familienväter – auch ohne autoritäre Befehle – plötzlich imstande sind, massenhaft Menschen zu töten ( C.R. Browning, Die Zeit)

Zusammenfassung
Der bewusst erzeugte Wandel des sozialen Handlungsrahmens, die Verschiebung der sozialen Referenzparameter und die zunehmende Dynamisierung dieses Änderungsprozesses führt bereits jetzt zu einer grundsätzlichen Teilnahmebereitschaft an den neuen Spielarten der Ausgrenzung, der Entrechtung und Beraubung (z.B. langjährige Erarbeitung kleiner Vermögen zur Sicherung des Alters).

Auf der untersten Ebene der Exekutive findet man kaum jemanden, der sich dieser Praxis verweigert. Übertrieben gesagt: Mitschießen oder nicht? Jedenfalls wird auf dieser Ebene „mitsanktioniert“, da es normenkonform legitimiert ist und die individuelle Menschlichkeit des einzelnen Sachbearbeiters die Hungerleidenden nicht wahrnehmen muss. Auch das Wissen um die implizit mögliche Tötung durch Hunger verändert die individuelle Handlungsentscheidung nicht. Das Bewusstsein des kollektiven Aufgehobenseins und der Verantwortungslosigkeit (die Delegation der Verantwortung an einen übergeordneten moralischen Rahmen) ist das größte Potential zur Unmenschlichkeit.

Just in solchen Momenten des individuell möglichen Hinterfragens der eigenen Handlung treten dann die sogenannten „Gewissenserleichterer“ wie Sarazin und Co. auf und liefern Erklärungen und „Beweise“ dafür, dass die Klagen der Opfer nicht berechtigt sind.

„Wenn die Energiekosten so hoch sind wie die Mieten, werden sich die Menschen überlegen, ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können” (Sarazin)

Die klare Aufteilung der Welt in Gut und Böse, Freund und Feind, zugehörig oder nicht macht alles einfach und hier beginnt die Eskalation der Vernichtungsgewalt bei dem Individuum unter Verlust bzw. Aufgabe der persönlichen Autonomie.

Hier sieht Welzer den Grund dafür, dass aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Vollstrecker des Unglücks der Anderen.

Eine Verschärfung der sozialen Konflikte ist – u.a. durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit – ohne große Probleme vorhersehbar und damit kommen wir einer Endlösung ein gutes Stück näher.

Quelle: elo-forum.net – 14. Januar 2009 – Von Hajo Freese
Link zum Pressebericht: www. elo-forum.net/hartz-iv/hartz-iv/-200901142118.html

Justizsenatorin von der Aue: Hartz-IV-Regeln sind Murks

Dienstag, Januar 13th, 2009

Harte Worte von Gisela von der Aue. Die SPD-Justizsenatorin vermisst klare Vorgaben für die Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Sie will Verbesserungen im Bund durchsetzen und die Gesetze überarbeiten.
Unpräzise und viel zu kompliziert: Berlins Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat am Wochenende die Hartz- IV-Gesetze scharf kritisiert. Angesichts der „enormen Klageflut an Berlins Sozialgerichten, die nicht abebbt“, sei die Justiz immer mehr „ein Reparaturbetrieb für schlechte Gesetze“. Die gesetzlichen Regelungen seien nicht praxistauglich und vermurkst, die Ermessenspielräume der zuständigen Jobcenter zu groß, es fehlten klare Vorgaben, sagte die SPD-Politikerin. Das müssten die Richter „ausbaden“. Mehr als 60 Prozent der 33 000 Verfahren, die im vergangenen Jahr am Berliner Sozialgericht eingingen, waren Klagen gegen Bescheide zur Arbeitslosenhilfe und- und Lebensunterhaltsicherung im Rahmen von Hartz IV.

„Das ist ein unfassbar großer Mount Everest aus Akten“, schilderte am Sonntag der Sprecher der Justizverwaltung, Daniel Abbou, die Situation. Geklagt wird wegen verweigerter Mietübernahmen, gegen Arbeitslosengeld-Bescheide, Einkommensanrechnungen oder „zu geringe“ Heizkostenzuschüsse. Im August 2008 registrierte das Sozialgericht den 50 000. Klagefall, seit die Hartz-IV-Reform 2005 in Kraft trat. Abbou: „Die Akten stapeln sich tatsächlich bis unter die Decke, die Richter verschwinden dahinter.“

Als Soforthilfe will die Justizverwaltung den 85 Berliner Sozialrichtern dieses Jahr 40 zusätzliche Kollegen zur Seite stellen. Damit werde allerdings nicht die Ursache der Misere bekämpft, betont ihr Sprecher. In erster Linie müsse es darum gehen, die bundesweit Verwirrung stiftenden gesetzlichen Regelungen zu überarbeiten. Sie müssten besser verständlich sein und mit der „Lebenswirklichkeit so in Übereinstimmung gebracht werden, dass Antragsteller und Behörden Rechtssicherheit haben“ – auch ohne die Sozialgerichte zu bemühen.

Mit der Hartz-IV-Reform wurde erstmals bundesweit die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe verwirklicht. Das stellt den Gesetzgeber und die Arbeitsbehörden bis heute vor große Probleme, weil von Anfang an Erfahrungen fehlten. Ein Hauptfehler war und ist aus Sicht der Justizverwaltung sowie der Sozialexperten der rot-roten Koalition im Abgeordnetenhaus, Ülker Raradziwill (SPD) und Elke Breitenbach (PDS), dass der Bundesgesetzgeber „zu vieles einfach offenlässt“.

Beispiel Mietübernahme: Laut Gesetz steht Hartz-IV-Empfängern zwar ein „angemessener Wohnraum“ zu, doch was dies konkret bedeutet, muss über die Ausführungsverordnungen der Kommunen oder Länder geregelt werden. Deshalb gibt es bundesweit ganz unterschiedliche, mal strengere, mal großzügigere Vorgaben hinsichtlich Größe und Miethöhe, was viele Betroffenen veranlasst, Vergleiche anzustellen und mit ihrer Klage bis vors Bundesozialgericht zu ziehen. Höchstrichterliche Urteile erzwingen dann wiederum ständige Änderungen im Gesetz und bei den Durchführungsverordnungen. Die Hartz-IV-Gesetzgebung „wurde schon 190 Mal modifiziert“, sagt Elke Breitenbach. Berlins Jobcenter seien darauf noch immer unzureichend vorbereitet, sie bräuchten mehr und qualifizierteres Personal zur Betreuung der 417 000 Hartz-IV-Empfänger in der Stadt.

Das fordern auch die Justizverwaltung und die SPD. „Jeder zweite Kläger bekommt vor Gericht Recht,“ heißt es dort. Dies zeige die „hohe Fehlerquote“ der Berliner Jobcenter. Sie seien überfordert – was deren Sprecher Olaf Möller allerdings dementiert. Die Unzulänglichkeit des Gesetzes sieht er als Hauptgrund der Misere an. Man bemühe sich aber um mehr Personal und weitere Schulungen. Außerdem würden derzeit etliche befristete Jobcenter-Stellen in Dauerstellen umgewandelt. Das soll die bisherige Rotation bei den Sachbearbeitern verringern, man will erworbene Kompetenzen in Sachen Hartz IV möglichst langfristig nutzen.

Justizsenatorin Gisela von der Aue will nun auf Bundesebene aktiv werden. Unter ihrer Federführung sollen die Justizminister der Länder noch im Januar erstmals in Berlin zusammenkommen und bis November 2009 „wirksame Gesetzesverbesserungen“ erarbeiten.

Quelle: tagesspiegel.de – (Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 12.01.2009)
Link zum Pressebericht: www .tagesspiegel.de/berlin/Landespolitik-Gisela-von-der-Aue-Hartz-IV;art124,2703406