Kein Geld für Auto, Urlaub, neue Kleidung und Restaurantbesuche: Zwei Oldesloer Familien berichten, wie sie über die Runden kommen.
Jedes sechste Kind in Stormarn wächst nach Einschätzung des Deutschen Kinderschutzbunds (DKSB) in Armut auf (wir berichteten). Entweder offiziell, also in einer Familie, die Hartz IV bezieht. Oder das Kind hat Eltern, die keine staatliche Unterstützung bekommen, aber kaum mehr Geld zur Verfügung haben, als ihnen nach den Hartz-IV-Regelsätzen zustünde. “Diese Zahl dürfte noch einmal so hoch sein wie die offizielle”, sagt Stormarns DKSB-Vorsitzende Birgitt Zabel. Viele Menschen, so ihre Erfahrung, glauben gar nicht, dass es in ihrer Stadt Armut gebe.
Es gibt sie. Wir treffen Heike D. (alle Namen geändert) hinter gutbürgerlicher Fassade. Ein weißes Reihenhaus irgendwo in Bad Oldesloe, 130 Quadratmeter, vier Zimmer, kleiner Garten. Was auf den ersten Blick großzügig wirkt, ist für sechs Menschen ein Zuhause. Und eigentlich ist es zu teuer. “Die Arge hat uns 746 Euro Miete bewilligt. Das Haus kostet aber 856 Euro”, sagt Heike D. Also zahlen sie zu von dem Geld, das sie eigentlich gar nicht haben. Was Heike D. daran so widersinnig findet: Das Haus, im Frühjahr bezogen, war Voraussetzung dafür, dass Sebastian (14), der älteste Sohn, aus dem Kinderheim zurückkehren durfte. Das Jugendamt hatte die alte Wohnung als zu klein für sechs Menschen befunden. Das Haus, das der Arge zu teuer ist, übrigens eigentlich auch… Ehemann Dieter D. (37) ist arbeiten. Der studierte Holztechniker hat eine Festanstellung als Tischler.
Heike D. öffnet das Haushaltsbuch. “Er bringt jeden Monat 1146 Euro netto nach Hause.” Hinzu kommen 952,41 Euro Hartz IV. Sophie, die jüngste Tochter, ist erst zwei Jahre alt, Heike D. ist noch Vollzeit-Mutter.
“Wir verzichten auf einfach alles”, sagt Heike D. Sie und ihr Mann waren noch nie essen, noch nie im Urlaub, haben kein Auto. “Die Kinder dürfen sich aussuchen, ob sie einmal im Monat in die Eisdiele oder lieber ins Kino wollen”, sagt Heike D., und beim Ferienprogramm im Sommer müssen wir abwägen: Darf der eine, oder darf der andere?” Das ist der ganze Luxus der Kinder.
Sophie sitzt auf dem Wohnzimmerteppich und legt einen Haufen Glasmurmeln Stück für Stück in eine Schachtel. Die Zweijährige stört es nicht, dass ihre Latzhose aus der Kleiderkammer des Kinderschutzbunds kommt. “Aber für unsere Zwölfjährige ist die Situation hart. Sie möchte schicke Klamotten, die Jeans für 100 Euro.” Nachts liegt die Mutter dann wach, hat ein schlechtes Gewissen und rechnet, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass es nicht geht. So viel haben die Eltern gar nicht, auf das sie verzichten könnten. Mit einer Ausnahme: die Stelle als Tischler. Würde Dieter D. zu Hause bleiben und Hartz IV beziehen, hätte die Familie schätzungsweise 200 bis 300 Euro mehr im Monat. Aber selbst Geld zu verdienen, ist der einzige Luxus, auf den Dieter D. nicht verzichtet.
Dieselbe Stadt, eine anderer Fall. “Es ist irgendwie alles anders”, sagt Pia (12). Was denn? Worte hat sie nicht, stattdessen umarmt sie ihre Mutter. “Wir sind ein Team”, sagt Britta W. (46). Ein Team, das mit zehn Euro am Tag auskommen muss.
2007 fing alles an. “Damals haben mein Mann und ich uns getrennt. Es ging nicht mehr”, sagt die alleinerziehende Mutter. Nach der Trennung zog sie mit ihrer Tochter in eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Das Ende der Beziehung war der Anfang von Hartz IV. Britta W.: “Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passiert. Wenn ich ein Buch schreiben würde, wäre der Titel: ‘Ich komme von der anderen Seite’.”
Die andere Seite, das war die Ehe mit einem gut verdienenden Partner, das war ein Haus mit Garten, ein dickes Auto und drei Urlaubsreisen im Jahr. Pia hatte damals eine ganze Etage für sich. Jetzt hat sie ein kleines Zimmer. Und einfach mal so kaufen, was sich die Kleine wünscht, das geht auch nicht mehr. Britta W.: “Jetzt ist auch noch die Sporttasche kaputt. Und im Juli gibt es drei Kindergeburtstage.” Pia soll nicht ohne Geschenke kommen. Dreimal zehn Euro muss die Mutter dafür rechnen. Ein kleines Vermögen. “Sie kriegt das Geld trotzdem, dann muss ich eben woanders sparen”, sagt die 46-Jährige, die dabei fast schon sportlichen Ehrgeiz entwickelt. Zehn Euro am Tag hat sie sich als Limit gesetzt. “Manchmal komme ich auch zwei Tage damit aus. Dann bin ich richtig stolz”, sagt Britta W., die nicht jammert. “Anderen geht es viel schlechter.”
Ihre finanzielle Lage ist dennoch alles andere als rosig. Sie bekommt 500 Euro Unterhalt, 159 Euro Wohngeld, 164 Euro Kindergeld, und da sie sich einen Job als Aushilfsverkäuferin gesucht hat, 399 Euro Lohn. Von der Arge kommt ergänzendes Hartz IV in Höhe von 50,80 Euro statt der anfänglichen 351 Euro, denn ihr Verdienst sowie Kinder- und Wohngeld werden gegengerechnet. Das macht 1272,80 Euro. Davon gehen 400 Euro Miete und 150 Euro für Betriebs- und Heizkosten ab. Weitere 55 Euro bekommen die Stadtwerke für Strom. 60 Euro kosten Telefon und Versicherungen. Unterm Strich hat die Kleinfamilie 607,80 Euro. Das sind rund 20 Euro pro Tag für Lebensmittel, Bekleidung, Schulsachen, für die Praxisgebühr und Extras wie Süßigkeiten oder mal fürs Kino.
Nun droht auch noch die Kürzung der Unterstützung. Nach den Berechnungen der Arge hat die Oldesloerin eine Wohnung, deren Miete 25 Euro über der zulässigen Grenze liegt. 32 Euro zu viel an Heizkosten gebe sie außerdem aus. Jetzt muss sie sich eine neue, eine preiswertere Wohnung suchen, oder künftig auf 57 Euro verzichten.
Für Pia ist die Situation am schwersten. Am Anfang wollte sie ihre Freundinnen aus dem Gymnasium nicht nach Hause einladen. “Sie hat sich geschämt”, sagt die Mutter. Nach einer Pause fügt sie hinzu: “Das tut weh.”
Die Zwölfjährige nimmt die Lage mit dem erstaunlichen Ernst eines jungen Menschen, der intuitiv begreift. Ist sie traurig? Wünscht sie sich etwas, was sie nicht bekommen kann? Sie schüttelt den Kopf: “Es geht ja nicht anders.” Zum Glück ist Gina da, die Katze aus dem Lübecker Tierheim. Die lässt sich knuddeln und ist ein guter Freund. “Pia hat sich immer schon ein Tier gewünscht”, sagt die Mutter. Da müssen die 50 Cent am Tag für das Futter drin sein.
Quelle: abendblatt.de – 13. Juni 2009 – Von Alexander Sulanke und Martina Tabel
Link zum Pressebericht: www .abendblatt.de/region/stormarn/article1051221/Leben-am-Minimum-Wir-verzichten-auf-alles.html