Politischer Zank über Langzeitarbeitslose findet kein Ende


Die Betreuung der Hartz-IV-Empfänger muss neu geregelt werden, doch Union und SPD streiten weiter – Die Interessen der Betroffenen geraten unter die Räder
Für Bernhard Matheis ist die Sache klar. Der Oberbürgermeister von Pirmasens findet, dass Hartz IV in seiner Stadt funktioniert: Ein “hervorragendes Modell” sei das, schwärmt der Oberbürgermeister. In Pirmasens kümmern sich Kommune und Arbeitsagentur in einer Arbeitsgemeinschaft mit 35 Mitarbeitern gemeinsam um die Langzeitarbeitslosen.

Matheis kennt sich aus. Mit 14,5 Prozent hat Pirmasens eine der höchsten Arbeitslosenquoten im Westen der Republik. Die kleine Stadt in der Pfalz wurde vom Niedergang der Schuhindustrie und dem Abzug der amerikanischen Truppen in den 90er-Jahren gebeutelt. “Bei uns hat sich die Zusammenarbeit bewährt”, sagt Matheis über die Kooperation von Stadt und Arbeitsagentur. Er spricht von einem eingeschworenen Team, das nur ein Ziel kennt: die Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Jede Seite bringe unterschiedliche Kompetenzen ein. Die Sozialarbeiter der Kommunen wüssten, wie es in den betroffenen Familien ausschaue. Die Mitarbeiter des Arbeitsamtes wüssten, welche Jobs frei seien und was die Arbeitgeber suchten. Von einer “Ideallösung” spricht der Lokalpolitiker aus der Pfalz.

Doch das Modell, das in Pirmasens so hervorragend funktioniert, steht auf der Kippe. Die Mischverwaltung aus Arbeitsagentur und Kommune ist nicht verfassungskonform und muss spätestens bis Ende 2010 reformiert werden. Ein Vorschlag aus dem Arbeitsministerium von Olaf Scholz (SPD), das Modell weiterzuführen, scheiterte am Votum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Matheis versteht seine Parteikollegen in Berlin nicht mehr. “Hier geht es doch um Menschen und ihre Chance auf eine Integration in den Arbeitsmarkt.”

In der Koalitionsrunde von Union und SPD in der Nacht zu Donnerstag gab es keine Einigung. Notfalls könne die Frage ja auch nach der Bundestagswahl geregelt werden, sagte der CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer nach den fruchtlosen Beratungen im Kanzleramt.

Auch vier Jahre nach der größten Sozialreform der deutschen Nachkriegsgeschichte streiten Union und SPD weiter über Zuständigkeiten und Organisationsfragen bei Hartz IV. Die Frage, wie den langzeitarbeitslosen Menschen und ihren Familien besser geholfen werden kann, droht dabei in Vergessenheit zu geraten. Dabei war doch gerade dies das große Ziel der Reform: Die Arbeitslosen sollten besser betreut und schneller wieder in Lohn und Brot gebracht werden. Stattdessen schuf die Politik eine Sozialbürokratie, die sich mehr mit sich selbst als mit ihren Kunden beschäftigt.

Schon bei der Ausarbeitung der Reform ging es den Politikern aller Couleur mehr um Einfluss und Milliarden und weniger um die Interessen der Arbeitslosen. Einig war man sich nur darüber, dass Sozial- und Arbeitslosenhilfe-Empfänger von einer einzigen Institution betreut werden sollten. Doch von wem? Von den Sozialämtern der Kommunen, die sich bislang um die Sozialhilfe-Empfänger gekümmert hatten? Oder von den Arbeitsämtern, die für den Bund zusätzlich zu den Arbeitslosengeld- auch die Arbeitslosenhilfe-Empfänger betreut hatten?

In der entscheidenden Nachtsitzung des Vermittlungsausschusses von Bundesrat und Bundestag im Dezember 2003 einigte man sich auf einen politischen Kompromiss, unter dem Hartz IV bis heute leidet. Sollen es doch beide machen – nach dieser Devise sollten Arbeits- und Sozialämter gemeinsame Arbeitsgemeinschaften, auch Jobcenter genannt, gründen. Zusätzlich drückte die Union die Option durch, dass Kommunen auch allein die Arbeitslosen betreuen können. Diese “Experimentierklausel” wurde allerdings auf 69 Optionskommunen beschränkt.

Im Dezember 2007 machten Verfassungsrichter den Politikern einen Strich durch die Rechnung. Die Mischverwaltung verstoße gegen das Grundgesetz, das klare Kompetenzen vorsieht. “Mangelnde politische Einigungsfähigkeit kann keinen Kompromiss rechtfertigen, der mit der Verfassung nicht vereinbar ist”, schrieben die Richter in der Begründung ihres Urteils. Damit brach der alte Richtungsstreit, der nie ganz von der politischen Bühne verschwunden war, wieder aus.

Die SPD mit Bundesarbeitsminister Olaf Scholz an der Spitze kämpft für den Erhalt des Status Quo – obwohl ein von seinem Ministerium in Auftrag gegebener Evaluationsbericht ergab, dass die “Zwitterstellung” der Mischverwaltungen “die Durchleitung von Weisungen an das Personal” erschwere und zu einer “gewissen Schwerfälligkeit der Administration” führe.

Die 349 Arbeitsgemeinschaften sollen Scholz zufolge einfach in “Zentren für Arbeit und Grundsicherung” (ZAG) umbenannt werden. Statt die verfassungswidrige Mischverwaltung zu ändern, will Scholz lieber die Verfassung ändern. Diesen Plan stimmte er mit den Bundesländern ab. Doch die Unionsfraktion im Bundestag spielte nicht mit. “Was da vorliegt, ist ein Bürokratiemonster”, sagte Fraktionschef Volker Kauder. Es mute merkwürdig an, wenn die Verfassung geändert werde und nicht die gemischte Zuständigkeit, kritisierte der parlamentarische Geschäftsführer Norbert Röttgen.

Auch die Arbeitgeber schossen sich auf Scholz’ Vorschlag ein: “Die derzeitige Mischverwaltung wird als gesetzlich organisierte Verantwortungslosigkeit zementiert”, sagte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Die Politik müsse Klarheit schaffen. Selbst Gewerkschafter halten nichts von dem Vorschlag. Die geplante Umwandlung der Jobcenter bringe Leistungsempfängern “überhaupt nichts” und Beschäftigten in den Jobcentern nur Verschlechterungen, kritisierte Ver.di. Die neuen Entscheidungsstrukturen seien “unübersichtlich und intransparent”.

Politiker, Gewerkschaften und Arbeitgeber streiten derzeit ausschließlich um Organisationsfragen. “Darum, was den Leistungsempfängern zugute kommt und wie man ihnen am effizientesten hilft, geht es in der aktuellen Debatte offenbar nicht”, sagt Arbeitsmarktexperte Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA).

Abseits der Frage, ob die Kommunen oder die Arbeitsagentur das Sagen haben, wird so getan, als sei alles in Ordnung. Dabei läuft die Betreuung der Langzeitarbeitslosen alles andere als optimal. Der Bundesrechnungshof bemängelte im Sommer 2008, die Betreuung und Vermittlung von Hilfebedürftigen sei insgesamt im Hartz-IV-System nicht zufriedenstellend. Hartz-IV-Empfänger warteten im Durchschnitt neun Wochen “vom Leistungsbeginn an auf ein qualifiziertes Erstgespräch bei einer Vermittlungskraft”, kritisierten die Prüfer. Bis zur Vorlage einer schriftlichen Vereinbarung zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt vergingen durchschnittlich 16 Wochen. In jedem dritten Fall seien gar keine Eingliederungsvereinbarungen geschlossen worden.

Die Zahlen belegen, dass die Reform den Langzeitarbeitslosen und ihren Familien bisher nicht wirklich zugute kam: Heute gibt es 6,7 Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld II – das sind mehr Hartz-IV-Empfänger als Anfang 2005, als das neue Gesetz in Kraft trat.

Quelle: welt.de – 6. März 2009 – Von Stefan Von Borstel Und Flora Wisdorff
Link zum Pressebericht: www .welt.de/welt_print/article3327230/Politischer-Zank-ueber-Langzeitarbeitslose-findet-kein-Ende.html

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