Wofür Hartz-IV-Empfänger Computer brauchen

Hunderte Forenkommentare, viele E-Mails: Die Leser von SPIEGEL ONLINE streiten darüber, ob Hartz-IV-Empfänger Zugang zum Internet brauchen. Viele Leser kritisieren die Urteile von Sozialgerichten, Hartz-IV-Empfänger könnten sich doch per TV informieren. Die Politik dagegen lässt das Thema überwiegend kalt.

Schnell die aktuellen Schlagzeilen überfliegen, die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge im Forum einer Nachrichtenseite kommentieren, das Stimmverhalten des eigenen Bundestagsvertreters auf Abgeordnetenwatch.de prüfen, ihm eine Anfrage schicken, die Facebook-Freunde aufs Thema hinweisen und dann noch für einen Euro ein Sachbuch gebraucht beim Online-Aktionshaus kaufen – das ist heute digitaler Alltag. 72 Prozent der Deutschen nutzen das Internet, so die aktuellen Zahlen des Marktforschungsunternehmens TNS Infratest im (N)Onliner-Atlas.

Eine Bevölkerungsgruppe ist zum großen Teil von diesen Möglichkeiten ausgeschlossen: Nur 51,5 Prozent der Deutschen mit einem Haushaltsnettoeinkommen von weniger als 1000 Euro im Monat nutzen das Netz. In den Hartz-IV-Regelsätzen ist die Anschaffung eines Computer nicht vorgesehen. Ein Fernseher ist nach der deutschen Abgaben- und Zivilprozessordnung unpfändbar, weil er die Grundversorgung mit Informationen gewährleistet – ein internetfähiger Computer dagegen nicht. Sozialgerichte urteilen nach dieser Maßgabe: Hartz-IV-Empfänger brauchen keine Computer, sie haben ja Fernseher.

Darüber hat SPIEGEL ONLINE berichtet und die Initiative Computerspende Hamburg vorgestellt, die Hartz-IV-Empfänger aus alten Bauteilen zusammengesetzte Rechner schenkt. Viele Leser haben kein Verständnis dafür, dass das Sozialrecht Bevölkerungsgruppen aus dem Netz ausschließt. Die Argumentation in Evelyn Thrienes Leserbrief ist beispielhaft für viele Zusendungen:

“Dass für Hartz IV-EmpfängerInnen kein Computer vorgesehen ist und keine Übernahme der Anbieterkosten für den Internet-Anschluss ist eine Ungeheuerlichkeit. Nicht einmal das Arbeitsmittel für Bewerbungen wird diesen Menschen gegönnt. Sollen sie vielleicht auf Schreibmaschinen oder handschriftlich verfasste Bewerbungen zurückgreifen – und dies in einer Welt, in der das nur noch als lachhaft gilt?”

Neben diesem Argument führen einige Leser auch an, dass selbst die Suche nach Arbeit ohne Zugriff auf das Internet kaum möglich sei. Wenige Leser greifen das grundsätzliche sozialethische Argument auf, dass aus der Ungleichheit, dass die einen Zugang zum Netz haben und die anderen nicht, Ungerechtigkeit wird, wenn die Benutzung des Netzes einen exklusiven Zuwachs an zentralen Lebenschancen mit sich bringt.

Im Forum zum Artikel führt Nutzer “Spaceinvader” das aus: “Ohne PC und Internetzugang kann man vielleicht einen Haushalt führen, aber kaum ein Teil der modernen Gesellschaft sein. Der Fernseher dagegen ist nur ein Instrument der Ablenkung und Unterhaltung. Ein Rechtsanspruch darauf und Unpfändbarkeit sind Unsinn.” Seiner Ansicht nach sind die derart gestalteten Sozialgesetze “wahrhaft von gestern”.

Einen interessanten Aspekt spricht Leser “erlachma” im Forum an. Er plädiert für einen Rechtsanspruch für Hartz-IV-Empfänger auf einen Basis-Computer und führt an, dass die Ämter verpflichtende Bewerbungstrainings dann als Online-Kurse anbieten könnten: “Es gibt ja inzwischen Unmengen an computergestützten Lernmitteln. Das würde dann wieder Kosten bei der Infrastruktur einsparen, beim Transport, etc. […] Ich denke, das wäre eine lohnende Investition, wenn man die zusätzlichen Möglichkeiten auch nutzt.”

So sehr das Thema die Leser von SPIEGEL ONLINE beschäftigt – mehr als 300 Forenkommentare und einige Dutzend Leserbriefe -, so wenig interessiert die Frage die Politik. Sollten Hartz-IV-Empfänger also zu Hause ein Recht auf Zugang zum Netz haben? Ende Juni schickte SPIEGEL ONLINE den sozialpolitischen Sprecher der im Bundestag vertretenen Fraktionen einige Fragen zur Teilhabe von Hartz-IV-Empfängern an der digitalen Welt. Es waren einfache Fragen darunter wie: Befürwortet Ihre Fraktion ein Grundrecht auf den Zugang zu modernen Informations- und Kommunikationstechnologien? Fehlt hier eine rechtliche Regelung, sollte die bestehende geändert oder präzisiert werden?

Regierungskoalition: Union und FDP antworten nicht

Der Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantwortete die Anfrage nicht selbst, sondern leitete Sie an den Obmann der Fraktion in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft weiter. Eine Antwort kam nicht. Der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Heinrich L. Kolb beantwortete die Fragen bis zum Erscheinen dieses Artikels nicht.

SPD: “Über das Thema nachdenken”

Die Sprecherin für Arbeit und Soziales der SPD-Bundestagsfraktion Anette Kramme erklärt einerseits, dass ihre Partei das Statistikmodell, nach dem die Hartz-IV-Regelsätze berechnet werden “für grundsätzlich geeignet” hält. Andererseits räumt sie ein, dass sich zum Beispiel über das Urteil des Landessozialgerichts NRW, dass Hartz-IV-Empfänger kein Recht auf Computernutzung haben, “sicher streiten” lässt. Die SPD werde “über dieses Thema nachdenken müssen, insbesondere im Hinblick auf die Ausbildung von Kindern und Jugendlichen”.

Die Formulierung ist so weich wie Butter im Hochsommer.

Grüne: “kein Reglungsbedarf”

Der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Grünen Markus Kurth sieht keinen “rechtlichen Regelungsbedarf”. Denn die Kommunikationskosten seien ja im Regelsatz der Grundsicherung für Hartz-IV-Empfänger “enthalten”. Kurth: “Die Höhe mag unangemessen niedrig sein.” Jedoch werde sie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar sowieso neu zu bestimmen sein, und zwar nach einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren.”

Die Linke: “Kommunikationsgrundrecht in die Sozialgesetze schreiben”

Eine klare Aussage zum Thema macht Katja Kipping, die sozialpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion. Auch sie verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Festsetzung der Hartz-IV-Regelsätze. In dem Urteil steht, dass der Gesetzgeber immer wieder aktuell definieren muss, was ein “menschenwürdiges Existenzminimum” ist, das sei vom Kontext abhängig und stelle sich zum Beispiel, so der Urteilstext, “n einer technisierten Informationsgesellschaft anders als früher” dar.

Die Linke sieht den Zugang zu moderner Technik, also auch die Möglichkeit der Nutzung des Internets, als Kommunikationsgrundrecht. Katja Kipping: “Das muss auch in der Sozialgesetzgebung entsprechende Berücksichtigung im Sinne sozialer und kultureller Teilhabe finden.”

Quelle: spiegel.de – 16.07.2010 – Von Konrad Lischka und Jan Mölleken
Link zum Pressebericht: www .spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,706680,00.html

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