Wenn der Lohn zum Leben nicht reicht

Hartz-IV-Aufstocker schuften, ohne dass ihr Lohn zum Leben reicht. Weil immer mehr Bürger staatliches Geld brauchen, ist nun wieder eine Debatte über den flächendeckenden Mindestlohn entbrannt.

Für Linkspartei-Chef Klaus Ernst dürfte es eine willkommene Abwechslung sein. Endlich muss er, der seit Wochen wegen seines Verdienstes in der Kritik steht, nicht über sein Einkommen sprechen, sondern darf sich als Anwalt der Hartz-IV-Aufstocker profilieren. Denn neue Daten des Arbeitsministeriums zur Entwicklung der Ausgaben gehen auf eine Anfrage Ernsts zurück. Diese zeigen, dass der Staat seit Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 weit mehr als 50 Milliarden Euro ausgegeben hat, um Niedriglöhne aufzustocken – und dass der jährliche Betrag Schritt für Schritt gestiegen ist.

Anfangs reichten noch acht Milliarden jährlich, um die tapferen Arbeitnehmer, die Hungerlöhne bekommen, zu unterstützen. Im letzten Jahr waren dagegen 1,4 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen, 200.000 mehr als 2005. Insgesamt kostete das Ganze elf Milliarden Euro. Für den Abgeordneten und Gewerkschafter Ernst ist das Missbrauch. “Die Bundesregierung verschwendet das Geld der Steuerzahler”, schimpfte er in der “Frankfurter Rundschau”.

Die neuen Zahlen lenken die Aufmerksamkeit auf eine ebenso zentrale wie umstrittene Frage der Arbeitsmarktpolitik: Was tun mit den Menschen im Niedriglohnsektor? Was tun mit jenen, die schuften, ohne dass es zum Leben reicht? Muss der Staat sie mit Zuschüssen im Arbeitsmarkt halten, oder muss die Politik mit einem gesetzlichen Mindestlohn dafür sorgen, dass jeder, der arbeitet, von seiner Arbeit auch leben kann?

Wozu ist ein Niedriglohnsektor gut?
Als Niedriglöhner gelten in Deutschland jene, die in Westdeutschland weniger als 9,50 Euro und in Ostdeutschland weniger als 6,87 Euro in der Stunde verdienen. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen sind das mittlerweile rund 6,5 Millionen Menschen, im vergangenen Jahrzehnt ist diese Zahl um 2,3 Millionen gestiegen.

“Im internationalen Vergleich hat Deutschland einen besonders großen Niedriglohnsektor”, sagt Thorsten Kalina, Experte beim IAQ, stern.de. Eine Aufstockung erhalten jene, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt, also unter der Höhe des Arbeitslosengeldes II. Für Alleinstehende liegt der Hartz-IV-Satz bei 359,00 Euro im Monat plus Geld für Wohnung und Heizung. Eine Friseurin in Thüringen etwa verdient in der untersten Tarifgruppe 3,18 Euro pro Stunde, ein Fleischer in Niedersachsen 6,33 Euro. Vor allem, wenn Kinder im Spiel sind, beträgt der Lohn häufig weniger als bei einem Bezug des Hartz-IV-Regelsatzes.

Traditionell ist wirtschaftspolitisch heiß umstritten, welchen Nutzen ein großer Niedriglohnsektor mit sich bringt: Dient ein schlecht bezahlter Job als Steigbügel hin zu einer besser bezahlten Stelle, oder ist er eine Sackgasse, in der Minderqualifizierte auf Staatskosten geparkt werden? Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verfocht die Steigbügel-Theorie, ebenso wie die Arbeitgeberverbände und die schwarz-gelbe Regierung.

Kritiker sehen dagegen eine große Ausbeutung der Arbeitnehmer und dringen deswegen auf einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn. Zu ihnen zählt auch IAQ-Experte Kalina. Die aktuellen Regelungen böten den Unternehmen Anreize, Löhne zu senken, argumentiert er. Deswegen plädiert sein Institut für einen umfassenden Mindestlohn. Allerdings müsste dieser mit 6,50 bis 7,50 Euro pro Stunde eher moderat eingeführt werden. “Ein hoher Einstieg könnte schädlich sein”, sagt Kalina.

Linkspartei fordert Stundenlohn von 10 Euro
Das sehen Oppositionsparteien und Sozialverbände ähnlich, auch wenn sich die Mindestlöhne in der Höhe unterscheiden: Die Sozialdemokraten unterstützen die Forderungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes nach einem Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro, die Linkspartei fordert gar 10 Euro. Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forums Deutschland, geht noch einen Schritt weiter: Neben einen Mindestlohn von 10 Euro fordert sein Verband, den Eckregelsatz von Hartz IV auf 500 Euro aufzustocken. “Die jetzige Bundesregierung muss endlich die Gewinner der Krisen kräftig zur Kasse bitten”, sagt Behrsing.

Die Bundesregierung interpretiert allerdings schon die vorliegenden Zahlen ganz anders. “Die Behauptung, man könne die Summe von 50 Milliarden Euro durch die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne einsparen, ist hanebüchen und unhaltbar”, sagte am Donnerstag ein Sprecher des Arbeitsministeriums. Mehr als 50 Prozent aller Aufstocker würden einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen und weniger als 400 Euro im Monat verdienen. Einem flächendeckenden Mindestlohn erteilte das Arbeitsministerium eine klare Absage. “Die Bundesregierung setzt auf branchenspezifische Lösungen”, so der Sprecher.

Quelle: stern.de – 12. August 2010 – Von Sebastian Kemnitzer
Link zum Pressebericht: www .stern.de/politik/deutschland/debatte-um-hartz-iv-aufstocker-wenn-der-lohn-zum-leben-nicht-reicht-1592579.html

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