Lohnt sich Arbeit? Oder doch eher Hartz IV?

Wer deutlich höhere Hartz-IV-Sätze fordert, verschweigt gern, dass sich viele Jobs dann nicht mehr lohnen würden.

Fünf Euro mehr? Eine Beleidigung sei das, ja ein Skandal. Denn, so Renate Künast von den Grünen: „Die Würde des Menschen ist mehr als fünf Euro wert.“ Und Mecklenburgs Sozialministerin Manuela Schwesig (SPD) fiel auf: Das reiche lediglich für einen Latte macchiato.

Seit der Ankündigung, den Hartz-IV-Regelsatz nach einer Neuberechnung um fünf Euro auf 364 Euro zu erhöhen, sieht sich die schwarz-gelbe Bundesregierung einer Protestwelle von Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbänden ausgesetzt. Mauschelei und Betrug lauten noch die harmlosesten Vorwürfe.

Tapfer verteidigt Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) den vermeintlichen „Skandal“ als „unbestechliche Neuberechnung“. Dabei geht unter, dass es gute ökonomische Gründe gibt, den Regelsatz nicht noch stärker zu erhöhen: Für viele Geringverdiener lohnt sich Arbeiten schon heute kaum noch. Jeder gut gemeinte Euro mehr für Hartz IV verringert den Abstand zwischen Stütze und Lohn weiter. Im Sozialgesetzbuch ist aber vorgeschrieben, dass jemand, der arbeitet, in jedem Fall mehr haben muss, als einer, der nichts tut.

„Perversion des Sozialstaatsgedankens“ – so nannte es der CDU-Politiker Roland Koch, wenn hart arbeitende Bürger erkennen müssten, dass sie annähernd das gleiche Einkommen erhalten wie diejenigen, die das System ausnutzen. Vornehmer drückt es die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus. Aufgrund der hohen Steuer- und Abgabenbelastung im unteren Einkommensbereich lohne es sich für viele Langzeitarbeitslose in Deutschland nicht, eine reguläre Beschäftigung anzunehmen. Das gelte besonders für Alleinerziehende und arbeitslose Paare mit mehreren Kindern.
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Ökonomen sprechen von einer „Hartz-IV-Falle“ und rechnen vor: Neben dem Regelsatz von derzeit 359 Euro erhalten Empfänger von Arbeitslosengeld II noch weitere Leistungen. So übernimmt der Staat Miete und Heizkosten. Außerdem trägt er die Sozialversicherungsbeiträge. Alleinstehende kommen so auf mehr als 800 Euro, Alleinerziehende mit einem Kind auf gut 1100 Euro und Familien mit zwei Kindern auf mehr als 1800 Euro.

In diesen Beträgen sind Vergünstigungen für Hartz-IV-Empfänger, die Geringverdiener nicht bekommen, wie etwa im öffentlichen Nahverkehr, bei Fernsehgebühren oder Museen noch gar nicht enthalten. Wollte man die finanziellen Zuweisungen allein durch das Einkommen aus eigener Arbeit erzielen, müsste die Alleinerziehende rund sieben Euro in der Stunde verdienen, ein verheirateter Familienvater rund zehn Euro die Stunde, rechnet das Institut der deutschen Wirtschaft vor.

Genau diese Löhne werden aber im Niedriglohnsektor bezahlt: Ein Briefzusteller bekommt etwa zehn Euro; in Ostdeutschland muss ein Wachmann oder Florist aber auch schon mit Tariflöhnen von unter sieben Euro auskommen.

Doch die Sozialstaatsverfechter überbieten sich gegenseitig mit Forderungen – die Linke verstieg sich gar auf 500 Euro Hartz IV. Um das Lohnabstandsgebot einzuhalten, propagiert die Opposition ein simples Mittel: Sie ist für einen hohen gesetzlichen Mindestlohn. Dass dadurch Millionen Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich verloren gehen könnten, schert sie nicht.

Gisela Flegel, Erzieherin

Ich bin aus Überzeugung Erzieherin, aber das Gehalt reicht nur für das Nötigste. Gerade in einer Stadt wie München ist das Leben und Wohnen kaum zu bezahlen. Ich bin jetzt nach Germering, einen Vorort, gezogen, weil hier die Wohnungen günstiger sind, trotzdem gebe ich fast die Hälfte meines Gehalts für die Miete aus. Selbst nach zehn Jahren als Erzieherin bleiben mir netto monatlich weniger als 1600 Euro. Während meiner vierjährigen Ausbildung waren es nur knapp 500 Euro.

Ich bin dennoch glücklich mit meiner Berufswahl, ich bilde mich regelmäßig fort. Wir Pädagogen haben einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, aber das wird oft unterschätzt und nicht anerkannt. Dabei übernehmen wir hier im Kindergarten immer öfter fast die komplette Erziehung, weil leider immer mehr Eltern dazu nicht in der Lage sind.

Und der Bedarf an pädagogischen Fachkräften wächst, weil der Bereich immer weiter ausgebaut wird, gleichzeitig haben wir aber einen Mangel an Erzieherinnen. Da sollte der Beruf doch angemessen bezahlt werden. Doch davon kann im Moment keine Rede sein. Ich gönne den Hartz-IV-Empfängern die Erhöhung ihrer Bezüge, doch unser Gehalt sollte erhöht werden, das Gleiche gilt für Berufstätige, die mit noch weniger auskommen müssen.

Kinder könnte ich mir im Moment nicht leisten, dafür versuche ich jetzt schon zu sparen. Ich jobbe noch neben der Arbeit und betreue behinderte Kinder am Wochenende, um ihre Familien zu entlasten, oder ich bastle Taufkerzen, die in einem kleinen Laden verkauft werden. Zusätzlich arbeite ich auch noch ehrenamtlich, das ist mir wichtig.

All diese Aufgaben machen mir Spaß, aber langsam merke ich, dass ich mit meinen Kräften auch haushalten muss. Denn so schön meine Arbeit mit Kindern ist, sie fordert viel Geduld, Kraft und Ruhe, um die Aufgabe wirklich gut zu machen. Doch wenn ich kürzer trete, merke ich das gleich wieder auf dem Konto.

Gerne würde ich öfter ins Konzert oder Theater gehen, aber das ist höchstens ein oder zweimal im Jahr möglich. Solche Ausflüge muss ich mir allein finanzieren, da gibt es für mich auch keine Rabatte. Auch wenn ich mal verreisen will, muss ich sparen. Eine Urlaubsreise kann ich mir nur alle zwei Jahre leisten.“ Protokoll: Julia Weber

Martina Philippi, Altenpflegerin

„Schon als Teenager habe ich mich für die Altenpflege entschieden. Meine Eltern waren zuerst gar nicht begeistert. Aber es ist schön, Menschen am Ende ihres Lebensweges begleiten zu dürfen und ihnen diese Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich kriege unheimlich viel von den Bewohnern zurück. Die Arbeit ist körperlich und psychisch anstrengend, vor allem wenn jemand stirbt, der länger bei uns gewohnt hat und den man gern gehabt hat.

Als mein Sohn vor vierzehn Jahren geboren wurde, musste ich eineinhalb Jahre Sozialhilfe beziehen, weil ich alleinerziehend war. Aber für mich war selbstverständlich, dass ich wieder arbeiten gehe. Arbeiten gehört zum Leben dazu. Ich möchte auch Vorbild für mein Kind sein.

Ich komme mit dem aus, was ich habe. Ich werde nach Tarif bezahlt und verdiene in Vollzeit monatlich 2000 Euro netto, Steuerklasse 3. Bei vielen freien Pflegediensten bekommt man weniger. Mein Mann ist für eine Zeitarbeitsfirma tätig. Er wurde nach 25 Jahren als Verkäufer entlassen. Er hat lange gesucht, mit mehr als 50 Jahren ist es schwer, etwas zu kriegen. Jetzt verdient er gerade mal ein Drittel von dem, was ich verdiene.

Wenn was Größeres ansteht, müssen wir langfristig planen. Das Auto dürfte jetzt nicht kaputtgehen. Mein Mann und ich sind jetzt seit zehn Jahren verheiratet, und wir waren noch kein einziges Mal im Urlaub. Für uns steht erst einmal unser Sohn im Vordergrund. Es muss ja vieles bezahlt werden, die Klassenfahrten und so weiter. Im Sommer können wir ihn wenigstens drei Wochen in eine Freizeit schicken. Die ganze Diskussion um Hartz?IV ist für mich schwer zu verstehen. Wir sind ein Sozialstaat, und es müssen die Menschen aufgefangen werden, die unverschuldet arbeitslos geworden sind. Aber man kann nicht erwarten, dass man mit Hartz IV 15 oder 20 Jahre über die Runden kommt und sich dann noch beschweren, dass es zu wenig ist.

Ich kenne viele Familien, in denen beide Eltern arbeiten gehen und die nicht mehr haben, als wenn sie Hartz?IV beziehen würden. Dann denke ich, toll, die einen tun nichts und kriegen das Geld, und die anderen, die arbeiten, haben auch nicht mehr. Die Ideallösung ist da immer noch nicht gefunden worden.“ Protokoll: Julia Weber

Rick Thürnagel, Friseur

„Ich arbeite bereits seit zehn Jahren als Friseur, sodass ich mich mit dem Niedriglohnsektor gut auskenne. Am Anfang habe ich bei einem Dorffriseur in Niedersachsen gearbeitet, da hatte ich ein Nettogehalt von 825 Euro. Vor sechs Jahren bekam ich dann eine Anstellung bei einem Friseur in Hamburg-Eppendorf und verdiente dort jahrelang rund 950 Euro netto. Im März habe ich meine Meisterprüfung gemacht und bekomme seitdem 50 Euro mehr im Monat. So habe ich momentan ein Nettogehalt von 1002 Euro plus Trinkgeld von rund 120 Euro, für das ich 40 Stunden in der Woche arbeite.

Damit komme ich gerade mal über die Runden. Gut 410 Euro gehen davon im Monat für Warmmiete drauf, 150 Euro für Lebensmittel, 130 Euro Rate für den Meisterlehrgangskredit, 60 Euro für das Monatsticket der öffentlichen Verkehrsmittel, zehn Euro für Kleidung und neun Euro für Medizin und Praxisgebühr. Hinzu kommen 79 Euro für Handy- und Internet-Flatrates, 25 Euro für den Bausparvertrag, zwölf Euro für die Haftpflichtversicherung.

Am Ende des Monats bleiben noch ungefähr 100 Euro übrig, in „guten“ Monaten mit mehr Trinkgeld vielleicht 150 Euro. Davon kann ich mir kaum etwas Zusätzliches leisten. So verzichte ich fast komplett auf Kneipen- und Restaurantbesuche, stattdessen koche ich viel. Die meisten Lebensmittel kaufe ich im Discounter ein, nur für frisches Gemüse oder Obst gehe ich auch mal in teurere Supermärkte.

Zum Glück lebe ich mit meinem Freund zusammen, sodass wir uns die Miete teilen können. Bei den hohen Mieten in Hamburg könnte ich mir kaum eine eigne Wohnung leisten. Einmal wollte ich eine Wohnung alleine mieten. Als ich dem Vermieter bei der Besichtigung meinen Verdienstausweis zeigte, hat dieser schnell abgelehnt. Ich hätte die Wohnung nur mit einer Bürgschaft meiner Eltern bekommen. Nur wer so etwas selbst erlebt hat, weiß, wie man als Geringverdiener lebt.

Die Situation von Hartz-IV-Empfängern hat sich durch den monatlichen Zuschuss von fünf Euro mit Sicherheit noch nicht verändert. Ich finde, dass sie nach wie vor viel zu wenig Geld bekommen. Das reicht vorne und hinten nicht, um davon zu leben.“

Quelle: welt.de – 04.10.10 – Protokoll: Friederike Gehlenborg
Link zum Pressebericht: www .welt.de/politik/deutschland/article10042845/Lohnt-sich-Arbeit-Oder-doch-eher-Hartz-IV.html

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