“Ich würde den Kindern so gerne fremde Länder zeigen”

Die Regierung will das Arbeitslosengeld II um fünf Euro erhöhen, aber wie lebt es sich mit der staatlichen Hilfe wirklich? Jaqueline Schade und ihre drei Töchter haben sich in ihrer Hartz-IV-Welt eingerichtet – mit Essen aus Polen, vielen unerfüllten Träumen und blauen Flecken. Ein Besuch in der Realität.

Berlin – Dass die Schades arm sind, sieht man nicht sofort. Ihre Wohnung in Reinickendorf ist klein, aber ordentlich. Die Wände sind in freundlichen Rottönen gestrichen, auch um die Wasserflecken zu kaschieren. Über dem abgewetzten Sofa liegt eine Decke, der kaputte Wäschetrockner, der als Fernsehtisch dient, ist von einer Holzplatte verdeckt. Auf dem Fensterbrett stehen Zierpflanzen – ein Luxus, den die schwarz-gelbe Regierung Arbeitslosen künftig nicht mehr zahlen will. Genau wie die zwei Hunde, die im Wohnzimmer herumtollen. “Dabei sind Tiere für das soziale Verhalten von Kindern so wichtig”, sagt Jaqueline Schade.

Wie 6,8 Millionen andere Menschen in Deutschland lebt die 48-Jährige von Hartz IV. In ihrem Fall heißt das monatlich 438 Euro vom Arbeitsamt, 558 Euro Kindergeld und 456 Euro Krankengeld. Seit Jaqueline Schade operiert wurde, sind ihre Gelenke taub. Früher hat sie als Näherin gearbeitet, als Zimmermädchen, zuletzt hat sie Regale im Supermarkt eingeräumt. Doch so ein Job ist mit der kaputten Schulter nicht mehr drin. Genau wie die neue Brille, die ihre Tochter Nadine, 14, so dringend braucht. Oder die Wohnung, auf die Michèle, 19, wartet. Cheyenne, mit ihren elf Jahren die jüngste, denkt praktisch. Bereits mit vier hatte das kleine blonde Mädchen an Weihnachten nur einen Wunsch: genug Glühbirnen.

Während Politiker über die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze streiten, hat sich Familie Schade in ihrer Hartz-IV-Welt eingerichtet. Die nun beschlossenen fünf Euro Zuschlag im Monat entlocken der Mutter nur ein müdes Lächeln. Seit Jahren bezieht die Familie Geld vom Staat. 600 Euro kostet die Wohnung, 900 bleiben zum Überleben, das nur mit allerlei Tricks funktioniert. In der Gefriertruhe, die Jaqueline Schade gegen selbstgemachten Likör eingetauscht hat, stapelt sich das Essen. Einmal im Monat fährt sie mit Bekannten nach Polen zum Einkaufen. Käse, Cornflakes oder Fisch für die Kinder könnte sie sich sonst nicht leisten. Pilze sucht sie im Wald, Marmelade macht sie selbst. “Ich versuche möglich zu machen, was möglich ist”, sagt sie.

Im Mai fängt sie an, Geschenke für Weihnachten zu sammeln, damit am Ende des Jahres etwas unter dem Baum liegt. Besonders knapp ist das Geld jetzt im Herbst, wenn die Kinder wieder neue Winterklamotten brauchen. Die Mutter kauft oft schwarze Stiefel und einen Edding dazu, damit die Schuhe länger neu aussehen. Aber manchmal helfen auch solche Tricks nicht weiter: Dann kommen ihre Töchter trotzdem mit blauen Flecken nach Hause. “Ich wurde in der Schule oft ausgelacht und verprügelt, weil ich die falschen Klamotten hatte”, sagt Michèle. “Oder weil ich zu einem Ausflug nicht mitdurfte. Ich habe dann erzählt, ich hätte etwas angestellt, um nicht zugeben zu müssen, dass uns das Geld fehlt.”

“Ich gehe nicht weg, ich trinke nicht, ich kaufe mir nichts”

Das zierliche Mädchen mit den wasserstoffblonden Haaren ist froh, dass sie nun die Mittlere Reife hat. Ihre Zukunft sieht sie dennoch pessimistisch: Seit zwei Jahren sucht sie nach einer Lehrstelle. Vergeblich. Das bisschen, das sie beim Kellnern verdient, wird der Mutter vom Arbeitslosengeld abgezogen. Michèle würde gerne aus den beengten Verhältnissen zu Hause ausziehen. Mit ihren 19 Jahren übernachtet sie immer noch auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Schwester Nadine teilt sich mit der kleinen Cheyenne das Kinderzimmer, in das kaum mehr als ein Bett passt. Ihre Nachmittage verbringt die 14-Jährige in der Arche. In dem Kinderwerk ist das Essen umsonst. Und manchmal gibt es einen Ball oder ein Kuscheltier geschenkt. Dass Arbeitsministerin von der Leyen nun Bildungsgutscheine austeilen will, macht Mutter Jaqueline wütend. “Warum muss ich beim Jobcenter für meine Kinder um Gutscheine betteln”, sagt sie. “Wenn ich meinen Töchtern wirklich etwas bieten möchte, muss ich eh bei mir selbst sparen.” Sie zeigt auf ihren alten Pullover.

Jaqueline Schades großer Traum ist Ägypten. Überall in der Wohnung hängen Bilder von Kleopatra und Pyramiden. “Ich würde den Kindern so gerne fremde Länder zeigen.” Doch den Flug kann sie sich nie und nimmer leisten. Sie ist fasziniert davon, was die Menschen in Ägypten alles geleistet haben. Vielleicht weil sie selbst so viel leisten muss, um ihre Familie durchzubringen. Ihr Ex-Mann zahlt den Kindern nur fünf Euro Taschengeld. Mehr hat er nicht, er lebt selbst von Hartz IV.

Jaqueline Schade zündet sich eine Zigarette an. Streng genommen steht ihr die nicht mehr zu, das Geld für Tabak hat die Regierung den Arbeitslosen gerade gestrichen. “Ich möchte mal sehen, was die Politiker sagen, wenn ich ihnen vorschreibe, wie sie ihr Geld ausgeben”, sagt Schade trotzig. “Ich bin ein selbstständiger Mensch, aber ich muss mich entmündigen lassen.”

Sie hat sich jetzt in Rage geredet. Wütend nimmt sie noch eine Zigarette. “Ich gehe nicht weg, ich trinke nicht, ich kaufe mir nichts. Wenigstens ein Laster möchte ich doch bitte auch haben dürfen.”

Quelle: spiegel.de – 28.09.2010 – Von Anna Fischhaber
Link zum Pressbericht: www .spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,719892,00.html

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